Kritik zu Vor dem Frühling

© Neue Visionen Filmverleih

Der abgesetzte georgische Präsident flieht mit seinen letzten Getreuen in die Berge: George Ovashvilis (»Die Maisinsel«) neuer Film verwandelt einen historischen Stoff in eine philosophische Parabel

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Swiad Gamsachurdia, erster frei gewählter Präsident Georgiens nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion, war eine schillernde Figur: Schriftsteller, Anthroposoph und Kämpfer für Menschenrechte, aber auch Vertreter eines aggressiven Nationalismus, der gegen Minderheiten hetzte und in seinem Amt immer mehr diktatorische Züge annahm. Nach einem Putsch und anschließendem Bürgerkrieg floh Gamsachurdia zuletzt mit wenigen verbliebenen Anhängern in die Berge, wo er Ende 1993 unter nie geklärten Umständen starb. Diesen letzten Wochen des abgesetzten Präsidenten widmet George Ovashvili seinen Film »Vor dem Frühling«, der allerdings kein biografisch-historisches Drama im herkömmlichen Sinn ist. Lediglich zwei Texttafeln, eine zum Anfang und eine zum Ende des Films, klären über den politischen Kontext auf.

Stattdessen entwirft »Vor dem Frühling« die Studie eines einsamen Mannes auf der Flucht, eines einstmals Mächtigen nach dem Verlust aller Macht, der ihn wie ein Gespenst durch sein eigenes Land ziehen lässt. Wortkarg und atmosphärisch vollzieht der Film die Fluchtbewegungen des Präsidenten und seiner wenigen Getreuen durch die majestätische Bergwelt nach, die Wege durch den Schnee und über reißende Flüsse, von Dorf zu Dorf und von einer ärmlichen Behausung zur nächsten, wo sie noch Unterschlupf bei den letzten seiner Anhänger finden, während die Verfolger ihnen dicht auf den Fersen sind.

Der Präsident klammert sich weiter an das unwiderruflich Verlorene und glaubt an ein Comeback: »Ich werde das Volk nicht im Stich lassen!« Diese Verleugnung seiner ganz offensichtlichen Niederlage trägt ­immer wieder auch absurd-komische Züge, etwa wenn der Präsident ganz staatstragend mit Anzug, Krawatte und Aktenkoffer durch die Wildnis stapft. Stärker aber prägt seine Wehmut die Atmosphäre des Films, der gleichwohl nicht eindeutig Partei für ihn ­ergreift. Der Schmerz spiegelt sich in der sparsamen Mimik des (iranischen) Hauptdarstellers Hossein Mahjoub und wird durch die erhabene und gleichgültige Schönheit der Natur konterkariert.

Je weiter der Weg ins Nirgendwo führt, desto präsenter werden Szenen, die die parabelhafte Ebene der Geschichte betonen. Immer häufiger verliert sich der Präsident in Tagträumen, die teils unmerklich in realistische Szenen einfließen. Sehr schön sind auch ein paar Tierbegegnungen inszeniert – findet der Präsident Trost im unverwandten, unschuldigen Blick von Rehen und im Geheul der Wölfe in der Nacht, weil den ­Tieren alle menschlichen Irrungen so fern und fremd sind?

Die episodische Anlage des Films, seine erzählerische Ruhe und die bewusst eingesetzten Wiederholungen haben zwar auch etwas Ermüdendes, und bezogen auf die konkrete Historie mag »Vor dem Frühling« allzu vage erscheinen. Doch auch wenn ihm das »Zwingende« mangelt: Als offene, poetische Reflexion über das Ende der Macht und die Reaktion des Entmachteten ist er ein sehr anregender Film.

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