Kritik zu Stay

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Der neue Film von Marc Forster: an der Grenze zwischen Halluzination und Realität

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Das hören Psychiater ungern: Der Kunststudent Henry Letham (Ryan Gosling) kündigt seinem Therapeuten Sam Foster (Ewan McGregor) an, er werde sich in drei Tagen umbringen. An seinem 21. Geburtstag, am Samstag, exakt um Mitternacht. Da seine bisherigen bizarren Vorhersagen allesamt eingetroffen sind, besteht Anlass zur Sorge. Das ist das eine Problem, mit dem Sam Foster in Marc Forsters Film »Stay« konfrontiert ist. Sein Versuch, tiefer in die Biografie seines Patienten einzudringen, der nach einem Unfall auf der New Yorker Brooklyn Bridge offenbar an Amnesie leidet, hat ungeahnte Folgen für Sams eigene Befindlichkeit. Er glaubt, allmählich den Verstand zu verlieren. »Ich weiß nicht mehr, was real ist«, klagt der kopflos gewordene Geistesmensch.

Der Schweizer Marc Forster versucht sich nach seinen ersten beiden Werken »Monster's Ball« und »Wenn Träume fliegen lernen« als eine Art Über-David-Lynch. Das Drehbuch des »Troja«-Autors David Benioff ist Ausgangspunkt einer visuell ehrgeizigen, kühnen, herausfordernden Psychostudie. Roberto Schaefers Kamera nistet sich gleichsam in den Köpfen und in der Psyche der Protagonisten ein. »Stay« ist ein 99-Minuten-Rätsel zwischen Traum und Wirklichkeit, ein Fest für Chiffre-Entschlüssler, ein Frust-Erlebnis für Freunde klarer Verhältnisse.

New York City erscheint in diesem Film fremd, kalt und unbarmherzig. Sam Foster wohnt mit seiner (selbstmordgefährdeten) Freundin Lila (Naomi Watts) in einem schicken Appartement, das den Zuschauer frösteln lässt. Die Szene, beim Blick durch die Scheiben oder in den Himmel über New York, ist surreal ausgemalt. In dieser Welt bewegt Ewan McGregors Sam sich in einem zu kurz geratenen Anzug. Seine Suche nach Spuren von Henrys Biografie bringt ihn an viele Orte in der Stadt, unter anderem kontaktiert er auch den blinden Psychiater Dr. Patterson (Bob Hoskins). Oder ist der blinde Mann etwa Henrys Vater? Und was hat es mit der Frau (Kate Burton) auf sich, die behauptet, Henrys Mutter zu sein, aber offiziell längst tot ist?

Sams Privatleben bleibt von seinen investigativen Bemühungen nicht verschont. Als seine Freundin ihn einmal »Henry« nennt, verliert er die Fassung. Es geht hin und her, und sie sagt: »Sam, ich weiß, wer du bist.« Das kann er nicht mehr mit Überzeugung behaupten. Marc Forster bemüht Doppelgängermotive, bald überlappen sich die Bilder von Sam und Henry, verschmelzen zu einer einzigen Persönlichkeit. Gewissheiten existieren nicht mehr, die Dinge sind im Fluss wie die Schlieren auf den regennassen Scheiben.

Regisseur Forster, Kameramann Roberto Schaefer und der für den Schnitt zuständige Matt Chesse erschaffen eine Welt, in der auch Details eine Bedeutung besitzen, die nur undeutlich, außerhalb des Kamerafokus, wahrnehmbar sind. In raffinierten Übergängen gewinnen zunächst unbeachtete Elemente in der nächsten Einstellung eine raumbeherrschende Dimension. Einmal öffnet Sam eine Tür und landet scheinbar im Meer; dabei nimmt die Kamera nur eine Wand mit einem überdimensionalen Aquarium auf. In einer anderen, halluzinativ anmutenden Szene bewegt er sich in einer Endlosschleife auf einer Wendeltreppe.

Diese stilistisch ausgeklügelten Bildentwürfe spiegeln ein Bewusstsein, das in keiner greifbaren, ritualisierten Wirklichkeit mehr aufgehoben ist. Das Leben ist hier ein unberechenbarer, unaufhaltsamer Fluss von neuen Eindrücken, verwirrenden Metamorphosen, multiplen Persönlichkeiten. Was am Ende Halluzination ist und was Realität, muss der Zuschauer selbst entscheiden. Forster bietet in der letzten Szene eine Deutung an, keine Erklärung. Es geht dem Publikum am Ende wie den Figuren, von denen allein Naomi Watts sich emotionale Anteilnahme erspielt. Sie versuchen aus dem Chaos der Verhältnisse einen Sinn zu formen

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