Kritik zu Sibel

© Arsenal Filmverleih

Eine junge Frau in einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste behauptet ihre Selbstständigkeit gegen provinzielle Verleumdung und Ausstoßung

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Sibel (Damla Sönmez), die älteste Tochter des Bürgermeisters, wird von den Frauen ihres Dorfes zur Außenseiterin gestempelt. Die Kamera in Çağla Zencircis und Guillaume Giovanettis Spielfilm liebt hingegen jede Regung der energiegeladenen kleinen Person. Mit Sibel durchstreifen wir den sattgrünen Hochwald der Berge nahe der türkischen Schwarzmeerküste. Die Schrotflinte geschultert, lässt die junge Frau die Lästermäuler in der Teeplantage zurück, versorgt eine ausgestoßene alte Närrin in ihrer Berghütte und macht sich wagemutig auf die Spur eines sagenhaften Wolfs, der das Dorf ängstigt – wie sich herausstellt als Mystifikation von dessen eigener verdrängter Mordlust.

Das türkisch-französische Autoren- und Regiepaar Zencirci und Giovanetti greift für seinen fesselnden Emanzipations-Thriller auf Versatzstücke zurück, die der alpenländischen Geier-Wally abgeschaut sein könnten. Ihr sicher zufälliges motivisches Recycling erzählt fern von Kitsch von der Zerreißprobe zwischen Archaik und Moderne und einer durch das Fernsehen geschürten Terrorismus-Paranoia.

Selbst die Folklore entfaltet eine pragmatische Schönheit im intensiven Kino der beiden. Wo immer im Schwarzmeer-Gebirge die Mobiltelefone versagen, greifen die Einheimischen auf ihre uralte Pfeifsprache zurück, um sich über unwegsame Dis­tanzen hinweg auszutauschen. Die 25-jährige, von Geburt an stumme Sibel spricht und streitet souverän in musikalischen Pfeiflauten, und sie wird verstanden: von ihrem Vater, der pubertierenden Schwester und dem Mann, der in ihr Leben tritt. Nur die Frauen fixieren Sibel argwöhnisch, überzeugt davon, dass sie ihren Makel auf die ungeborenen Kinder des Dorfes überträgt.

Das Regime über die Bestimmung der Mädchen zur Ehefrau und Gebärerin liegt in »Sibel« vollkommen in der Hand der Mütter. Sie sind es, die für die abwesenden Väter rigoros über den Gehorsam der Töchter wachen. Die Kupplerin hat ältere, ehrversessene Brautwerber im Angebot. Als Witwer, Ladenbesitzer, Bürgermeister und einziger Mann im Dorf gerät Sibels ­eigentlich großherziger Vater unter Druck und stimmt einer vermittelten Ehe für die kleine Schwester zu, anstatt sie in die Stadt zur Schule zu schicken. Die Kleine träumt ihrerseits davon, durch die Hochzeit an­erkannt zu werden. Sie hasst Sibel und ihr Plädoyer für die Schule und hilft sogar, sie auszustoßen.

Sibel indes wird überfallen, nicht von einem Wolf sondern einem fiebrigen Verwundeten, einem Deserteur. Geschmeidig wird die Jägerin mit ihm fertig, beginnt, ihn am Leben zu halten und näht sogar schaudernd mit der Stopfnadel seine Wunde zu. Ein zweites, geheimes Leben entwickelt sich, in der stetig wachsenden Nähe zu dem Fremden entdeckt sie ihren Körper und ihre Leidenschaft, während die garstige Schwester verbreitet, Sibel verstecke einen Terroristen. Das Drama eskaliert, die Liebesträume platzen und die Familie scheint vollkommen stigmatisiert. Aber Sibel taugt nicht zum Opfer. Das verständnisinnige Lächeln einer jungen Nachbarin zeigt, dass mit ihr etwas Neues im Dorf ­Einzug halten könnte.

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