Kritik zu Shoplifters

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Lange Jahre schon ist der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda Stammgast auf dem Festival von Cannes, in diesem Jahr konnte er endlich die Goldene Palme mit nach Hause tragen: mit dem Porträt einer ungewöhnlichen Familie von Dieben und Schwindlern

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Von Kritikern wird der japanische Filmemacher Hirokazu Kore-eda gerne mit Yasujiro Ozu verglichen, da er wie dieser oft von familiären Beziehungsdynamiken erzählt. Kore-eda selbst erklärte allerdings in einem Interview, dass er sich stärker in der Tradition von Mikio Naruse und Ken Loach sieht, Regisseure, die sich ebenfalls mit sozialen Gemeinschaften, insbesondere aber auch mit der Arbeiterklasse beschäftigen. Beides trifft mehr denn je auf Kore-edas neuen Film »Shoplifters« zu, der 2018 in Cannes die Goldene Palme gewann. Es geht darin um eine Familie, die in ärmlichen Verhältnissen am Rande Tokios lebt und sich mit kleinen Diebstählen über Wasser hält. Gleich die erste Szene, eine wortlose Miniatur urbaner Poesie, zeigt den Vater Osamu und den 12-jährigen Shota beim Ladendiebstahl im Supermarkt. Routiniert und nüchtern gehen die beiden zu Werke, jede Geste, jeder Blick, jedes Ablenkungsmanöver sitzt. Und trotzdem spürt man ihre latente Angst vor der Entdeckung, den Hauch Nervosität, der den Amateur vom Berufskriminellen unterscheidet. Diese Menschen, das wird klar, stehlen nicht aus Lust am kriminellen Kitzel, sondern aus schierer Notwendigkeit: aus Hunger. »Es ist kein Diebstahl, denn die Waren im Supermarkt gehören ja noch niemandem«, so Osamus pragmatisch-absurde Logik, die typisch ist für den feinen Humor des Films. Da bekommt Brechts Redensart vom Essen und der Moral eine ganz neue Dimension.

Auf dem Nachhauseweg sehen die beiden ein kleines Mädchen auf einem Balkon sitzen. Die fünfjährige Yuri wirkt verwahrlost und hungrig, und so nimmt Osamu sie kurzerhand mit nach Hause. Sehr schnell schließt die Familie, zu der noch Osamus Frau Nobuyo, die Großmutter Hatsue und die Halbschwester Aki gehören, das Mädchen ins Herz – und behält es bei sich, denn: »Wenn man kein Lösegeld verlangt, ist es auch keine Entführung.« Ihre eigenen Eltern scheinen Yuri nicht zu vermissen, und je näher wir ihre neue Familie kennenlernen, desto besser verstehen wir, dass sie allesamt als Randfiguren der japanischen Leistungsgesellschaft um die Bedeutung von Zusammenhalt ebenso gut wissen wie um die Notwendigkeit von zweckmäßigem Denken – schließlich sind Kinder nicht die schlechtesten Ladendiebe.

Danach geschieht lange nicht mehr viel. Mit feiner Beiläufigkeit schildert Kore-eda den Alltag der Familie, wobei die Mahlzeiten, der Hunger, eine wichtige Rolle spielen. Zuweilen droht diese dramaturgische Monotonie ins Lähmende zu kippen. Bis man versteht, dass Kore-eda ganz allmählich, mit der Präzision eines urbanen Ethnologen, das rätselhafte Geflecht aus Zuneigung und Abhängigkeit freilegt, das diese Menschen zusammenhält. Die Großmutter etwa scheint bei aller Güte mehr als eine simple Witwe zu sein; und welche Vergangenheit verbindet Osamu und Nobuyo? Die heimlichen Hauptfiguren sind aber Shota und Juri, die mit ihrer Mischung aus Unschuld und Anpassungsvermögen zum moralischen Herz der Erzählung werden.

Zeichnet Kore-eda an der Oberfläche ein Porträt japanischer Rezessionsverlierer, weitet sich der Film immer mehr zu einer Reflexion über die Konstitution von Familie. Was ist Familie? In einem Land, wo das Geschäft mit Mietfamilien für einsame Menschen floriert, eine umso drängendere Frage. Eine der berührendsten Szenen zeigt Aki bei ihrem Job in einer Art Peepshow, wo die käufliche Illusion von »Nähe« sich bei einem Kunden plötzlich in authentische Intimität verwandelt. Bis zum Schluss lotet Kore-eda die Grauzone zwischen Gefühlen und Geschäftsmäßigkeit aus, zeigt, wie korrumpierbar jede Beziehung angesichts existenzieller Bedrohung werden kann. Trotzdem ist er kein Zyniker, seine Haltung bleibt stets die eines optimistischen Humanisten. Seine Figuren mögen kriminell sein, verlieren am Ende aber nicht ihren ethischen Instinkt. Dass Familienbande auch ohne Blutsbande entstehen können, und Familie da ist, wo Liebe herrscht, mögen Binsenweisheiten sein. Aber nur selten werden sie so nachhallend in filmische Poesie verwandelt wie in »Shoplifters«.

Stream [arte bis 1.6.21]

Meinung zum Thema

Kommentare

Eine Großfamilie: Eltern und zwei Kinder lebt am Rande von Tokio. Das kleine Haus gehört Oma Hatsue (Kirin Kiki). Die Eltern schlagen sich durch Gelegenheitsjobs durchs Leben. Vater und Sohn Shota (Jyo Kairi) bessern das Budget durch Ladendiebstähle (Ttel!) auf. Als ihnen die kleine Yuri (Miyu Sasaki) zuläuft, bringt Vater Osamu (Lily Franky) ihr das Handwerk bei. Die ältere Tochter Aki (Mayu Matsuoka) arbeitet in einer Peep-Show. Das wird in fernöstlich epischer Breite erzählt. Wiederholungen bleiben nicht aus. Dem Zuschauer wird das Bild eines ärmlichen aber intakten Familienverbandes vorgegaukelt.
Nach und nach kommen Details über die Einzelschicksale der Mitglieder ans Licht. In den Dialogen geht es u.a. auch mal um leibliche Eltern bzw. Adoptiveltern.
Als Oma stirbt und Shota beim Klauen erwischt wird, gerät der Clan in die Mühlen der Justiz. Im zweiten Teil folgen langatmige Verhöre, die nur durch die guten Darsteller und schnelle Schnitte interessant bleiben. Am Ende löst sich das ganze Patchwork-Gebilde dahingehend auf, dass hier keine echten leiblichen Verwandtschaftsbeziehungen bestehen. Alles wird sehr individuell aufgelöst. Der Zuschauer kann selbst beurteilen welche Form des Weiterlebens erfreulicher ist.
Bleibt die Frage, ob eine leibliche Familie besser ist als ein auf geschäftsmäßigen Beziehungen beruhendes Model?

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