Kritik zu Schmetterling und Taucherglocke

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Die Erinnerung wird zur letzten Zuflucht: Julian Schnabel hat den autobiografischen Bestseller von Jean-Dominique Bauby verfilmt – als Abrechnung, die zugleich eine Aussöhnung mit dem Leben ist

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Man möchte auf keinen Fall an seiner Stelle sein. Doch dieser Film lässt dem Zuschauer keine andere Wahl. Hinterher kann man es subjektive Kamera nennen und die Zusammenarbeit von Schnitt, Kamera und Regie loben, aber währenddessen ist es, als ob man es selbst erleiden müsste: Menschen, die sich mitleidig und erschrocken über einen beugen, die einen herumschieben und Dinge sagen, ohne im Geringsten darauf einzugehen, was man selbst sagt und will. Dann setzt sich die schreckliche Erkenntnis durch: Ich höre sie, aber sie hören mich nicht. Und dann die noch schlimmere: Ich bin von Kopf bis Fuß gelähmt. Schließlich taucht im Gesichtsfeld ein Chefarzt auf, der mit professioneller Munterkeit erläutert: »Ich sage es ganz direkt: Sie haben das sehr seltene Locked-in-Syndrom.« So nennt man also in Medizinsprache den Zustand, wenn man bei vollem Bewusstsein vollkommen hilflos ist.

Das Kino ist gewissermaßen dazu erfunden worden, sich an die Stelle von anderen zu versetzen. Oft erlebt man das als angenehme Selbstvergrößerung – etwa wenn man leichtfüßig wie Julie Andrews' »Mary Poppins« oder breitbeinig wie John Wayne aus dem Kino kommt. »Schmetterling und Taucherglocke« aber versetzt den Zuschauer an die Stelle eines nach einem Schlaganfall Gelähmten. Das unbedingt Sehenswerte dieses Films besteht genau darin: Er versetzt den Zuschauer in den schrecklichen Zustand und führt ihn dann auf ganz erstaunliche Weise wieder heraus: Vom Gefesseltsein in der Taucherglocke, da verspricht der Titel kein Wort zu viel, zur Schwerelosigkeit eines Schmetterlings.

Diese Verwandlung beschreibt Jean-Dominique Bauby auch in der Vorlage, deren Wunder darin besteht, dass es sie überhaupt gibt. Bauby nämlich hat sich nach seinem im Alter von 44 erlittenen Schlaganfall vom beschriebenen Locked-in-Syndrom nie mehr erholt; sein Buch hat er mit dem Einzigen geschrieben, was er noch bewegen konnte: einer Wimper. Aufopferungsvolle Krankenschwestern haben ihm beigebracht, mit dieser Wimper zu kommunizieren. Der Film zeigt es: Die Logopädin zählt die Buchstaben auf nach der Häufigkeit, in der sie im Französischen vorkommen, und notiert sich, wann er mit der Wimper zuckt. Den ersten Satz, den er ihr auf diese Weise diktiert, ist: »Ich möchte sterben.« Sie empfindet das als Affront. Später wird er ihr ein »Entschuldigung« zuzwinkern, auf das sie dankbar und erleichtert reagiert, während seine Stimme aus dem Off anmerkt, wie simpel gestrickt doch die Frauen seien. Die Verschränkung von Schilderung und Kommentar hat der Film dem Buch voraus. Durch sie verstärkt sich noch einmal der Zug, der diesen Bericht aus dem Innern eines Locked-in-Syndroms erst erträglich macht: die Selbstironie. Der ehemalige Chefredakteur der »Elle« entdeckt sie im Zustand der Bewegungsunfähigkeit als bestes Mittel gegen Selbstmitleid und Verzweiflung. Sie hilft ihm auch, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein: Er weiß, dass er gesund kein sympathischer Mensch war.

So handelt »Schmetterling und Taucherglocke« von der Macht der Selbstironie, aber auch von der Macht einer Schauspielerstimme, in diesem Fall der Mathieu Amalrics. Die Darstellung eines Gelähmten lässt ihm im wahrsten Sinne des Wortes nicht viel Spielraum, umso faszinierender ist es, wie er allein durch seine Stimme den Zuschauer mitreißt und fortträgt. So hilflos sein Körper, so agil ist der Geist, der sich hier ausschließlich aus dem Off artikuliert. Scharfzüngig kommentiert er das Treiben von Schwestern und Ärzten, wechselt von Spott zu Verzweiflung, von echter Freude zu Häme und lässt uns immer wieder auch die Angst heraushören, die diesen Mann permanent begleitet. Die Monteure, die ihm ein Telefon installieren und sich darüber lustig machen, dass der Gelähmte doch allenfalls hineinstöhnen kann, wären überrascht, mit wie viel Humor er ihnen entgegnet.

Nach und nach verlässt der Film die enge subjektive Perspektive und weitet den Blick auf Baubys weitere Umgebung und vor allem auf seine Vergangenheit. Obwohl sich an seiner bedrängenden Situation nichts ändert, schwingt sich der Film zu immer größerer Leichtigkeit auf. Fantasie und Erinnerung werden Bauby zur letzten Zuflucht, zum persönlichen Paradies. »Schmetterling und Taucher­glocke« ist kein Film über ein schreckli­ches Schicksal, sondern über die Größe des menschlichen Geistes.

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