Kritik zu Renn, wenn du kannst

© Zorro Filmverleih

Ein Rollstuhlfahrer und sein Zivildienstleistender verlieben sich in dasselbe Mädchen – das ist nicht der Stoff, aus dem üblicherweise die Kinoträume sind

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Wenn man dann noch hört, dass diese Lovestory in einer Duisburger Hochhauswohnung spielt, erwartet man eigentlich schwermütige deutsche Tristesse. Das Gegenteil ist der Fall, Dietrich Brüggemanns Kinodebüt ist ein kleiner Geniestreich. Den Weg bereitet hat ein anderer »Behindertenfilm«, Alejandro Amenábars oscarprämiertes Drama »Das Meer in mir«. Hier gibt es eine Schlüsselszene: Ramón, seit 27 Jahren vom Hals abwärts gelähmt, prozessiert um das Recht, sein Leben beenden zu dürfen. Ein wortgewandter Jesuitenpriester, der an derselben Behinderung leidet, will den bekennenden Selbstmörder vom Wert des Lebens überzeugen. Doch im Rahmen eines surrealen Disputs erweisen Ramóns Argumente sich als die besseren.

Mit der gleichen Wortgewalt, mit der Ramón den Wert seines Lebens anzweifelt, haucht auch Dietrich Brüggemann der Figur seines Rollstuhlfahrers Leben ein. Das ist ein Kunststück, denn eigentlich benutzt dieser verbitterte Ben seine verstiegene Rhetorik nur, um die ihm zugeteilten Zivildienstleistenden mit sadistischer Inbrunst zu triezen. Gemäß dem Credo von Groucho Marx, der keinem Club angehören will, der Leute wie ihn als Mitglied akzeptiert, formuliert auch Ben seine ausdrückliche Abneigung gegen Behinderte und Gutmenschen, die Behinderte mögen.

Mit seiner exotischen Wortakrobatik entfaltet Ben aber auch eine ganz eigene Form von Eros, die seine Figur zum Schillern bringt. Allein mit seinem Mundwerk gewinnt er die Gunst der schönen Cellospielerin Annika, die seinem sympathischen Zivi Christian ebensoden Kopf verdreht hat. Der Behinderte und die Schöne landen im Bett. Diese heikle Szene funktioniert, weil Sprache hier nicht nur nicht vergessen, sondern ausdrücklich thematisiert wird. Annika, ganz das romantische »Gefühl«, will Ben nur zu gerne zum Schweigen bringen, doch der widerspricht vehement: »Wir müssen reden.« Nach diesem Prinzip bringt Brüggemann Unangenehmes zur Sprache, vom Viagra bis zur Penispumpe.

Trotz einer gewissen Dialoglastigkeit ist »Renn, wenn du kannst« kein Hörspiel, sondern ein Schauspielerfilm. Mit seiner hageren, fragilen Erscheinung erweckt Robert Gwisdek Bens gebrochenen Charakter zum Leben. Der Sohn von Corinna Harfouch und Michael Gwisdek stellt eine Form von Lähmung dar, bei der auch Arme und Hände nur eingeschränkt funktionieren. Aus dem engen Radius seines Handlungsspielraums heraus fotografieren Brüggemann und sein Kameramann Alexander Sass sprechende Bilder. Ein kurzer Cartoon, den Ben und Zivi Christian sich in einer Szene ansehen, illustriert verborgene Sehnsüchte des Rollstuhlfahrers. Und wenn Ben schließlich mit seinem behindertengerecht umgebauten Ami-Straßenkreuzer aus der Tiefgarage des Hochhauses herausfährt – dann ist das großes Kino.

Zum Erlebnis wird »Renn, wenn du kannst«, weil Brüggemann immer wieder den Tonfall variiert und die Erwartungen an ein »Behindertendrama« unterläuft. Das gelingt nirgends besser als in jener Szene, in der Ben erstmals Annika persönlich trifft, die er als Peeping Tom bislang nur durchs Fernrohr beobachtete. Die verkrachte Musikerin wirft eine Komponistenbüste durch die Fensterscheibe, unter der Ben mit seinem Cabrio parkt. Dabei fällt ein 40 cm langer Glassplitter herab und bohrt sich tief in Bens Bein. Der abgründige Witz besteht darin, dass Ben dank seiner Behinderung keinen Schmerz spürt, dafür aber umso tiefer fühlt – denn er ist getroffen von »Amors Pfeil«.

Mit dieser unwiderstehlichen visuellen Logik übersetzt Brüggemann die Welt eines Rollstuhlfahrers in poetische Bilder. Neben Robert Gwisdek und Jacob Matschenz in der Rolle des schlagfertigen Zivis Christian wird leider die Frauenfigur nicht mit der gleichen Fantasie entfaltet – obwohl Brüggemanns Schwester Anna nicht nur die weibliche Hauptrolle spielt, sondern auch am Drehbuch mitwirkte. Die Musikerin Annika hat weniger Innenleben als die beiden Jungs, verkörpert nur eine Muse. Von dieser Einschränkung abgesehen ist »Renn, wenn du kannst« ein Film, den man sich mehrmals ansehen möchte. Wenn Brüggemann in seinem grandiosen Schlussbild die Hochhaussiedlung digital unter Wasser setzt, dann liegt »Das Meer in mir« plötzlich in Duisburg.

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