Kritik zu Over Your Cities Grass Will Grow

© Mindjazz

2010
Original-Titel: 
Over Your Cities Grass Will Grow
Filmstart in Deutschland: 
27.10.2011
L: 
105 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Sophie Fiennes' Dokumentarfilm ist viel mehr als nur ein Porträt des Künstlers Anselm Kiefer, er ist ein Thriller über das Schaffen und das Werk Kiefers, ein Trip durch Materialien und Mythen

Bewertung: 4
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Es ist ein seltsam fremder Ort, in den uns Sophie Fiennes gleich zu Beginn mit langsamen, soghaften Kameramanövern hineinzieht. Begleitet von einer eindringlichen Musik werden wir Zuschauer gleichsam durch ein Labyrinth aus oben und unten, innen und außen, Kunst und Natur geleitet. Eine bizarre, mysteriöse Schönheit strahlen diese Schächte und Gänge aus, die die Kamera bedächtig entlangfährt wie in einem Schloss jenseits aller Zeiten. Eine faszinierende, unheimliche Atmosphäre entsteht, wenn die Kamera schließlich Katakomben und Räume erkundet, die manchmal wie Festsäle oder Nachtzimmer wirken zwischen Entstehung und Verfall. Fiennes’ beobachtende, aber auch beschwörende Scope-Bilder scheinen für Momente diesen unglaublichen Raumorganismus zu vervollständigen, zu vervollkommnen.

Bei diesem wunderlichen, wunderbaren Ort, den Fiennes erkundet und der manchmal einer Arche Noah der Mythen und Geschichten gleicht, handelt es sich um das Areal »La Ribaute « bei Barjac in Südfrankreich. Auf diesem 35 Hektar großen Gelände einer ehemaligen Seidenfabrik hat der bildende Künstler Anselm Kiefer einen ganz eigenen mystischen Kosmos erschaffen. Aus der hügeligen Landschaft, alten Industriegebäuden, Studioräumen, Tunnelsystemen, Betontürmen, Gemälden, Skulpturen und Installationen ist ein irrwitziges Gesamtkunstwerk entstanden, eine greifbare, materielle Welt aus Beton, Blei, Glas, Erde, Sand und Asche, die doch unwirklich erscheint. Man denkt sich unwillkürlich Figuren und Charaktere in diese Räume. Man fühlt sich erinnert an Letztes Jahr in Marienbad, in dem Alain Resnais so durch Münchner Schlösser gedriftet ist wie Sophie Fiennes durch Kiefers erdig-bleierne Welt. Man kann aber auch an einen Pop-Klassiker denken wie Mario Bavas Vampire gegen Herakles, wo die Kamera einmal in die Unterwelt hinabsteigt, die durchaus Kiefers Underground ähnelt.

Plötzlich tauchen dann doch Menschen auf in »La Ribaute«, es sind kleine Figuren, die Schöpfer der Szenerie, der Künstler und seine Assistenten selbst. Man sieht Kiefer und seine Crew tatkräftig wie Bauarbeiter hantieren, wenn sie Kunstwerke aus Beton, Blei und Glas arrangieren. Man sieht sie mit Bunsenbrennern, Kränen und Bulldozern werkeln: Heavy- Metal-Handwerker der Kunst. Fiennes’ Film nähert sich in diesen Passagen am ehesten einem klassischen Dokumentarfilm an: Der Künstler wird bei seiner Arbeit beobachtet, die Eleganz seiner Handgriffe und sein Augenmaß werden registriert. Kiefer ist Arbeiter, Gott und Kleinkind zugleich. Sein Schöpfungsprozess ist stets verknüpft mit Spiel- und Zerstörungslust. Immer wieder wird verschüttet, zerschlagen und zerdeppert.

Fiennes’ Film nimmt noch eine weitere Wendung: Man erlebt Kiefer im Gespräch mit dem Autor Klaus Dermutz, ein merkwürdiger Dialog nach all den fast wortlosen Passagen. Kiefer geht kaum auf Fragen ein, aber er philosophiert großartig über erste und letzte Dinge und über die kindliche Langeweile als Existenzgrundlage. Fiennes ist eine sinnliche Reise zum Planet Kiefer gelungen, der für immer zwischen Genese und Endzeit oszilliert. Vielleicht ist ihr Film einer der besten Endzeitfilme unserer Tage.

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