Kritik zu Orly

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Reisende und ihre Aufenthalte: Der neue Film von Angela Schanelec (»Mein langsames Leben«, »Marseille«, »Nachmittag«) zeigt, wie man aus einem profanen Flughafen ein Filmpoem zaubert

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Flughäfen sind Orte des Abschiednehmens. Dass der Film »Orly« heißt, verdankt er der besonderen räumlichen Architektur dieses Flughafens, der in seiner gläsernen Hülle eine Art Heimstatt bietet, eine Bühne, auf der sich das Leben entfalten kann. »Transit« wäre die zweite Wahl, die vielleicht schon zu viel verraten hätte. Denn es geht um das erzwungene Verweilen, das zum Ritual eines jeden Abflugs gehört. Gewonnene Zeit. Dass wir dann zuerst eine junge Frau im Pariser Stadtgewirr sehen, ist ein dramaturgischer Trick. Sie ist die Einzige, die sich nicht wirklich aufhalten, die beinahe zu spät kommen und – stumm – ganz zuletzt einen Abschiedsbrief lesen wird. Sie heißt Sabine, er Theo. Aber wer ist sie? Wer ist er?

Szenenwechsel. Eine andere junge Frau auf dem Flughafen ruft ihre Mutter an, weil sie ihren Ehering vergessen hat. Mit leeren Händen reist es sich leichter, mag man denken, denn sie will den Ring gar nicht zurück, vertieft sich lieber in ein Gespräch mit dem attraktiven Fremden, der zufällig auf der gleichen Bank sitzt. Ein Flirt ins Ungewisse. Er fliegt nach San Francisco, sie nach Montreal. Doch beide werden wieder nach Paris zurückkehren.

Angela Schanelec hält ihren Film in der Schwebe. Er gleitet von einem Paar zum andern, zu Mutter und Sohn, einem jungen Paar, zu Rucksacktouristen, die sich vom Zufall der frei gewordenen Zeit verleiten lassen, Wahrheiten preiszugeben. Dass die Mutter einen Liebhaber hatte, entsetzt den Sohn so sehr, dass er offenbart, schwul zu sein. Dass sie zur Beerdigung des Vaters unterwegs sind, von dem die Mutter schon lange getrennt lebt, löst ihre Zungen, aber nur, um die Gräben in der Familie aufzuzeigen. Dass der junge Mann innerlich abwesend ist, wenn die Freundin ihm etwas vorliest, zeigt unauffällig, wie sehr sich die jungen Leute schon auseinandergelebt haben. Das Teleobjektiv zeichnet unerbittlich auf, was sonst in Unschärfe verschwimmt.

Der Film hat kein Ziel, kommt nur plötzlich zum Stillstand, weil der Flughafen evakuiert wird. Auch das ein dramaturgischer Eingriff. Und schon verwandelt sich der trubelige Ort in ein Stilleben. Als hätte die Zeit jetzt endgültig ihr Terrain erobert. Eine einzige Maßnahme (der Regie), und die Flüchtigen werden an den Ort zurückgeschleudert, von dem sie gekommen sind, dem zu entrinnen sie vorhatten. Die Uhr wird wieder zurückgedreht, das Leben beginnt wieder von vorn. Auf der Pariser Stadtautobahn verlieren sich ihre Spuren. Ins Ungewisse. Nur der Brief – Theos Stimme – hallt nach. Wie eine Koda. Es ist ein Zitat von Italo Svevo, mit dem der liebe Gott ins Spiel des Zufalls gebracht wird. Aber er ist nur einer von uns. »Wir sind getrieben und keiner kann uns helfen.«

»Orly« ist ein streng komponierter Film, ein Filmpoem, dem man den Organisationswillen ansieht, auch anhört, wenn die Gespräche wie von Geisterhand geführt an ein Stichwort anknüpfen, statt fern und unverbindlich zu bleiben, wie sie es in Wirklichkeit sind. Aber dann senkt sich mit der Abblende doch der Schleier des Vergessens über die schönen Bilder. Sie verwandeln sich in das, was sie sein sollen.

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