Kritik zu Novemberkind

© Schwarz-Weiss Filmverleih

Ulrich Matthes und Anna Maria Mühe in einem ungewöhnlichen Film über die deutsch-deutsche Vergangenheit, der auf dem Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken den Publikumspreis gewann

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Es braucht Zeit, damit sich Geschichte in Kunst verwandeln kann. Gerade im Moment brandet eine neue Welle verdichteter deutsch-deutscher Vergangenheit an die Ufer des künstlerischen Mainstreams und markiert in Film und Literatur eine neue Position des Rückblicks. Der Hass und die Nostalgie sind gleichermaßen verschwunden und haben Platz geschaffen für einen differenzierten Rückblick mit universellem Anspruch. »Novemberkind« ist einer dieser Filme, die es sich nicht leicht machen mit ihrem Stoff und nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Schauspieler nie die Balance verlieren.

Robert (Ulrich Matthes) ist Professor für kreatives Schreiben und trägt seit langem eine fremde Geschichte mit sich herum, die aus ihm einen Autor machen könnte. Es ist die Geschichte von Anna und ihrer Tochter Inga (beide gespielt von Anna Maria Mühe). Zu Beginn der achtziger Jahre hatte Anna ihr Heimatdorf in der DDR mit einem russischen Deserteur verlassen, ihr fieberndes Kind allerdings ließ sie bei den Großeltern zurück – in der Hoffnung, es später nachholen zu können. Als dieser Plan scheitert, verzweifelt sie an ihrem neuen Leben und landet in der Psychiatrie, wo sie sich Jahre später das Leben nimmt. Inga weiß davon nichts. Für sie ist die Mutter bei einem Badeurlaub auf Hiddensee gestorben. Bis Robert kommt und sie auf eine Reise in die eigene Vergangenheit schickt.

Die Doppelrolle der Anna Maria Mühe ist nicht nur ein visueller Trick der Identifikation beider Frauenfiguren, die in ihrer Lebenshaltung doch recht unterschiedlich sind. Regisseur Christian Schwochow weist damit auf ein viel drängenderes Problem der Aufarbeitung: Mit ihr verlieren wir die Orientierung, und das, was war, wird immer wieder zu dem, was ist. In dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit bewegt sich der Film zwischen der DDR der Achtziger und dem noch immer uneinigen Deutschland der Gegenwart. Mit großem Geschick und einem sensiblen Blick für Übergänge montiert Christian Schwochow die beiden Handlungsstränge ineinander, wechselt das Medium, um Brüche zu verdeutlichen, setzt unscharfe, grobkörnige Bilder der Vergangenheit gegen eine klare Gegenwart ab, und doch verschwimmen beide Zeitebenen miteinander. In rasant schnellen Schnitten bewegt er sich in dem Mosaik seiner Handlung, bis ein deutliches Bild entsteht, das die ganze Geschichte offenbart. Indem er jede Geradlinigkeit vermeidet und sich über vermeintlich unbedeutende Einzelheiten dem Ganzen nähert, wird auch seine Methode der Aufarbeitung deutlich. Es ist eine vorsichtige schrittweise Annäherung, die sich nur so der Übermacht der historischen Verschlagwortung entziehen kann. Die Tragik des Systems liegt in der Tragik seiner individuellen Geschichten.

Christian Schwochow ist 1978 auf Rügen geboren und in Leipzig, Berlin und Hannover aufgewachsen. Er ist ein Kind der Wende, ebenso wie sein Film. Dass dies sein Abschlussfilm der Filmakademie Baden-Württemberg ist, mag man kaum glauben.

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