Kritik zu Marieke und die Männer

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Ein bisschen wie bei Jacques Brel: Die belgische Filmemacherin Sophie Schoukens erzählt in ihrem Spielfilmdebüt von der Leidenschaft für May-September-Affären aus der Sicht einer jungen Frau

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Ist Papa jetzt für immer tot?«, fragt das kleine Mädchen und: »Passt er auf dich auch auf?« Doch ihre Mutter, mit der sie gemeinsam in der Badewanne sitzt, bleibt eine Erklärung schuldig. Ein seltsames Missverhältnis, ein unheimlicher Kontrast besteht da zwischen der intimen Nähe der Körper und der großen Distanz der Gefühle. Rund zwölf Jahre später ist diese Leere zu einem gewaltigen Vakuum gewachsen. Vage Andeutungen beschwören ein düsteres Familiengeheimnis. Was ist mit dem Vater passiert? Warum verweigert die Mutter jede Auskunft? Warum ist alles, was mit dem Vater zu tun hat, ein Tabu? Was hat es mit dem Mann auf sich, der plötzlich vor der Tür steht, den die Mutter um keinen Preis empfangen will?

Auf den ersten Blick wirkt Marieke wie eine unbeschwerte junge Frau, die auf dem Fahrrad durch die Straßen fährt, in einer Schokoladenmanufaktur sinnliche Genüsse produziert und unbeschwerte Affären mit sehr viel älteren Männern hat. Doch bald ist eine diffuse Anspannung zu spüren, eine latente Melancholie, die über Mariekes Leben hängt und sich zu konkretisieren beginnt, als ein Freund ihres Vaters in ihr Leben tritt. Plötzlich erfährt sie ein paar Dinge, die ihre verhärmt und verbissen wirkende Mutter ihr konsequent verschwiegen hat, zum Beispiel, dass das Haus ihrer Kindheit gar nicht abgerissen wurde. Unvermutet öffnet sich damit ein bisher verschlossenes, verdrängtes Kapitel ihres Lebens.

Es ist natürlich nicht schwer, eine Verbindung zwischen dem Verlust des Vaters und Mariekes Hingezogenheit zu reifen Männern herzustellen. »Wenn ein Mann merkt, ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, ist alles anders«, erklärt Marieke ihrer verständnislosen Freundin, »er lebt jeden Moment, als wär’s sein letzter. Jeder Moment ist kostbar.« Lolita-Geschichten über die Affären sehr alter Herren mit sehr jungen Mädchen werden sonst meist aus der Perspektive der Männer erzählt – dem wollte die belgische Regisseurin Sophie Schoukens in ihrem Debütfilm eine weibliche Version entgegensetzen. Wenn Marieke ihre Liebhaber fotografiert, dann setzt sie aus vielen Detailaufnahmen ein neues Bild von ihnen zusammen. »Eigentlich sind diese Männer alt und hässlich. In Deinen Fotos sind sie schön«, stellt die Freundin fest, »durch dich sind sie schön.« Und so geht es in dieser widerspenstigen Coming-of-Age-Geschichte immer wieder darum, wie aus vielen Teilen ein Ganzes wird, aus Detailaufnahmen ein ganzer Mann, aus Erinnerungen die Geschichte ihres Vaters, aus den disparaten Puzzlestücken ein mögliches Leben.

»Ohne Liebe, ohne zärtliche Liebe ist alles vorbei«, singt Jacques Brel, dessen Chanson »Marieke Marieke« eine diffuse Inspiration für diesen Film bildet, der großartig ist in der Art, wie er Gefühle anklingen lässt und ihrem Echo nachlauscht. Umso betrüblicher ist es, dass Sophie Schoukens, die Kunstgeschichte studiert hat, als Bühnenschauspielerin in New York aufgetreten ist, Drehbuchkurse an der Columbia Universität nahm und als Produzentin tätig war, also selbst schon vieles ausprobiert hat, die Geister, die sie zunächst so subtil beschwört, dann doch in ein allzu abruptes Finale zwingt.

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