Kritik zu Die zwei Leben des Daniel Shore

© Studiocanal

2009
Original-Titel: 
Die zwei Leben des Daniel Shore
Filmstart in Deutschland: 
11.02.2010
L: 
95 Min
FSK: 
12

Vor vier Jahren machte Michael Dreher mit dem Kurzfilm »Fair Trade« auf sich aufmerksam. In seinem Langfilmdebüt wagt er sich an eine Wiederbelebung des Tanger-Mythos

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Tanger, da waren sie alle. All die Eskapisten der westlichen Welt, die Opiumsüchtigen, die Verfolgten, die Untergetauchten, die Schwulen, die Gelangweilten und die Getriebenen. Vor allem in den späten Zwanzigern, als es vielleicht keinen anderen Flecken auf der Welt gab, der so schnell seine Protektorate (portugiesisch, spanisch, französich) wechselte und darüber immer internationaler und verheißungvoller zu werden schien. In den sechziger und siebziger Jahren kehrte die Literaturszene und die Beatgeneration an den mythischen Ort zurück. Paul Bowles, Tennessee Williams, Jack Kerouac, Truman Capote und William S. Burroughs zog es hierher. Und 1990 ließ Bernado Bertolucci Debra Winger und John Malkovich in »Der Himmel über der Wüste« von Tanger aus in eine drogenvernebelte Fantasie von wüstendurchquerenden Tuaregs und exotischem Sex fortziehen.

Zwar ist Tangers Mythos inzwischen völlig abgeranzt, doch Michael Dreher möchte uns noch ein bisschen an die Legende von einst glauben lassen. Und so erlebt auch Nicolai Kinski in seiner Rolle als Daniel Shore wohl eine Art Debra-Winger-Moment, als er sich in die exotische Imane (Morjane Alaoui) verliebt, die für ihre Familie und ihren kleinen Sohn auf den Strich geht und in den Diskotheken Ausländer abschleppt. Eine ominöse Bekanntschaft, ein vermeintlicher Antiquitätenhändler mit Namen Henry, lässt die beiden Verliebten in einer leerstehenden Anlage mit Swimmingpool unterkommen und gibt Daniel einen unglücklichen Ratschlag nach dem anderen. Und nach einer Kette verworrener Umstände landet der kleine Sohn Imanes blutüberströhmt vorm Pool.

Mit dem Anblick des toten Jungen beginnt der Film. Es ist der Schock, der alles Weitere anschiebt und zugleich traumartig verzwirbelt. Denn fortan springt der Film vor und zurück, zwischen Marokko und Daniels Rückkehr nach Deutschland hin und her und lässt das Erlebte immer wieder ins Gegenwärtige blitzen. Das rumpelt dramaturgisch gewaltig, dafür kann man Dreher bei seinem Langfilmdebüt zumindest nicht vorwerfen, er habe erzählerisch nichts riskiert. Warum nun aber seine Nachbarschaft in Deutschland mit der frustrierten Hausverwalterin (Judith Engel), dem Leisetreter (Matthias Matschke) und der singenden Borderlinerin (Katharina Schüttler) so schrullig und verzerrt ausfallen muss, kann der Plot keinesfalls beantworten. Auch die Sicherheit, mit der Daniel trotz seiner verwirrten Sinne glaubt, dass die Hausgemeinschaft die Quälereien an einem kleinen Jungen deckt, der in der Wohnung am Ende des Flurs festgehalten zu werden scheint, muss schleierhaft bleiben.

Dass sich der Film im zweiten Teil für den großen Hokuspokus eines Spukfilms entscheidet, in dem sich endlose Flure und zickige Türen im Stil von Kubricks »Shining« wichtig machen, obwohl dem Haus selbst keinerlei abgründige Magie oder blutige Vorgeschichte anhaftet, mag einer Fingerübung im Genrewechsel geschuldet sein. Wirklich kafkaesk oder besser und verruchter: burroughsesk – und das sind die Attribute, auf die der ganze Film unverkennbar hinaus will – ist das aber noch nicht.

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