Kritik zu Die Karte meiner Träume

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Meist suchen Regisseure nach Stoffen, aber zuweilen ist es auch umgekehrt: Dem US-Schriftsteller Reif Larsen wäre die Geschichte des fabelhaften T.S. Spivet vielleicht nie eingefallen, wenn er nicht zuvor Filme von Jean-Pierre Jeunet gesehen hätte

Bewertung: 4
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3.666665
3.7 (Stimmen: 3)

Wir sind es gewohnt, Landkarten mehr Vertrauen zu schenken, als sie verdienen. Wir betrachten sie als ein objektives Abbild der Welt, obwohl ihre Perspektive stets von subjektivem Interesse geleitet ist. Historisch gesehen, verleihen sie Macht- und Besitzansprüchen grafische Gestalt. Dabei folgen sie einem verständlichen Impuls: die Welt begreifen zu wollen. Menschen zeichneten Karten, lange bevor sie schreiben konnten.

Dieser Anfang läuft Gefahr, dem deutschen Verleihtitel von Jean-Pierre Jeunets neuem Film zu viel Ehre zu erweisen. Allerdings ist im Original (L’extravagant voyage du jeune et prodigieux T.S. Spivet) auch von einer außerordentlichen Reise die Rede. Sie nimmt ihrem Ausgang an einem zentralen Punkt Nordamerikas, der kontinentalen Wasserscheide. Für den jungen Helden des Films, T.S. Spivet (Kyle Catlett), verläuft sie genau durch die Coppertop Ranch in Montana. Dort wurde er geboren und dort wächst er auf.

Das zehnjährige Wunderkind ist ein liebenswürdiger Egozentriker. Dem selbst ernannten »Leonardo von Montana« ist es gelungen, den Heiligen Gral der Naturwissenschaften zu finden: Er hat ein Perpetuum mobile geschaffen, eine Maschine, die in immerwährender Bewegung begriffen ist. Für seine Erfindung will ihn das Smithsonian Institute mit einem renommierten Preis auszeichnen. Allerdings hat er verschwiegen, dass er ein Kind ist. Auch seiner Familie erzählt er nichts von seinem Durchbruch, sondern macht sich heimlich nachts auf den Weg nach Washington. Etwaige Gefahren scheut er nicht, unbeirrt wird er seiner Bestimmung folgen. Hier wechselt Die Karte meiner Träume vom Genre der Pastorale zum Roadmovie, um sich in seinem letzten Teil in eine Satire zu verwandeln. Das ist, für die Figur wie für ihren Regisseur, ein heikler Parcours. Aber Jean-Pierre Jeunet ist Kinomagier genug, um diese Forschungsreise unter das Zeichen des Gelingens zu stellen.

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Jean-Pierre Jeunet hat stets dafür Sorge getragen, filmische Universen nach dem Maß seiner Hauptfiguren zu schaffen. Die Welt fügt sich bei ihm gemäß der Wünsche und Vorstellungen von versponnenen Außenseitern. Wie sonst hätten die Eltern von T.S. zusammenfinden können? Sein Vater ist ein schweigsamer Cowboy, der gern Western sieht und Whisky trinkt (Callum Keith Rennie), und seine Mutter eine Insektenforscherin (Helena Bonham Carter), deren Rollenname Dr. Clair das beglückend Extravagante dieser Allianz noch einmal bestätigt. Die ältere Schwester träumt von fernem Ruhm und Glamour als Miss America. Sein Zwillingsbruder Layton hingegen hat die patente Bodenständigkeit des Vaters geerbt. Er kommt beim Spiel mit dessen Waffe ums Leben, ein Trauma, für das die Familie erst Worte findet, als sie den verschwundenen T.S. schließlich in einer fremden Welt wiederentdeckt. Die Galerie dieser liebe- und respektvollen Karikaturen wird vervollständigt durch Miss Jibsen (Judy Davis) vom Smithsonian Institute, die Schwierigkeiten hat, die Fürsorge für den kindlichen Preisträger mit ihrem beruflichen Ehrgeiz zu vereinen.

Auch Jeunet erfüllt sich mit der Adaption eines Romans von Reif Larsen einen Traum: von Amerika. Seinen ersten US-Film Alien 4 realisierte er vollständig im Studio, nun schwelgt er in den unbegrenzten Weiten des Landes. Er hat Die Karte meiner Träume in 3D gedreht, was die Romanvorlage gleichsam vorschrieb, die behände über den Text ausgreift, die Randspalte mit Skizzen, Karten und Grafiken füllt. Dieser verspielte Enzyklopädist des Kinos setzt das Format auf staunenswerte Weise ein. Natürlich schöpft er die Projektil-Ästhetik aus (ein Lasso schnellt dem Zuschauer entgegen), aber vor allem nutzt er den Reliefeffekt, um das Vertraute exotisch erscheinen zu lassen. Wer außer ihm würde je auf die Idee kommen, Grashalme und Staub derart in der Wahrnehmung des Zuschauers hervortreten zu lassen?

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