Kritik zu Arrhythmia

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Mit seinem Debütfilm »Koktebel« landete der russische Regisseur Boris Khlebnikov vor bald 15 Jahren einen internationalen Festivalhit. Sein neuester Film handelt vom ganz gewöhnlich zermürbenden Alltag im heutigen Moskau

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In »Arrhythmia« geht es um eine doppelte Rhythmusstörung: Da ist einerseits die zerrüttete Ehe von Sanitäter Oleg (Alexander Yatsenko) und seiner Frau Katja (Irina Gorbacheva), die als Ärztin in der Notaufnahme arbeitet. Oleg ersäuft seine Probleme in Wodka, Katja will eigentlich nicht mehr, kann diesen manchmal zu einem Häufchen Elend zerfließenden Mann aber auch nicht loslassen. Und dann ist da die Störung im System: Obwohl beide hart arbeiten, kommen sie nur gerade eben über die Runden und müssen auch nach ihrer Trennung weiter gemeinsam in der kleinen Wohnung leben. Spätestens als Olegs neuer Vorgesetzter auftaucht, ein kalter Manager, der die Versorgung auf Effektivität statt auf die Bedürfnisse der Patienten trimmen will, tritt das Kammerflimmern auf.

Boris Khlebnikov schließt sich mit seinem neuen Film an die neorealistische Tradition seines britischen Kollegen Ken Loach an. Kameramann Alisher Khamidkhodzhaev tastet sich mit nüchtern-dokumentarischen Bildern über den rauen Beton der Plattenbauten und durch die sterilen Krankenhausflure und verleiht dem Nichtloslassen­können des Paares damit Bodenhaftung. Keine Spur von der infernalischen Atmosphäre, die etwa Martin Scorseses themenverwandten spirituellen Rausch »Bringing Out the Dead« mit Nicolas Cage als todbringenden Sanitäter auszeichnet.

Bei aller Dramatik – Katja will die Scheidung, kranke Patienten überall, der Kampf gegen die Bürokratie – verkommt »Arrhythmia« dabei nie zu einem Rührstück. Khlebnikov, der das Drehbuch gemeinsam mit Natalia Meshchaninova geschrieben hat, nimmt seine Figuren ernst, gerade indem er immer wieder für Momente leisen Humors sorgt. Gleich in der ersten Szene behandelt Oleg eine hypochondrische ältere Dame, die unbedingt ins Krankenhaus möchte. Doch als Oleg ihr von der dafür nötigen Kopfrasur infolge neuer Hygienemaßnahmen erzählt und ihr eine neue, mit »Nanotechnologie« hergestellte Wunderpille aus Deutschland andreht, brummt sie schließlich: »Ich fahr nicht mit.«

Khlebnikovs Film selbst ist alles andere als ein audiovisuelles Placebo. »Arrhythmia« besticht als Paar- und Sozialstudie, die vom Zusammenspiel der Hauptdarsteller lebt. Die beiden verkörpern ihre Figuren mit jeder Faser, machen dieses intime Ringen zwischen Ablehnung und betrunkenem Sex auf der Küchenzeile ohne die obligatorischen krachenden Teller oder lautes Gebrüll glaubhaft. Etwas schade ist allerdings, dass Khlebnikov die zunächst aus beiden Perspektiven erzählte Geschichte schließlich auf Oleg zuspitzt. Katja ist eine interessante Frau, von der man gerne mehr erfahren hätte.

Die großen gesellschaftlichen Probleme wie der in Russland verbreitete Alkoholismus, die Ungleichheit und die Tücken der kapitalistischen Ökonomie klingen an, letztere verkörpert durch Olegs neuen Chef. Und doch ist »Arrhythmia« ein Film über die kleinen Leute und ihren Kampf im Alltag, über die Suche nach Sinn und nach Hoffnung. Die scheint gegen Ende zumindest nicht völlig abgeschrieben, denn auf der Autobahn strahlt die Sonne und Olegs Krankenwagen hat, zumindest für den Moment, freie Fahrt.

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