Cannes und die Krise

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Für die einen ist es nur ein Event auf dem Roten Teppich, auf dem sich berühmte Menschen fotografieren lassen. Für die anderen aber steht der Ruf des Weltkinos auf dem Spiel, wenn am Dienstagabend zum 71. Mal das Internationale Filmfestival von Cannes eröffnet wird. Zu den Ritualen des Festivalbetriebs gehört es, zu Beginn eine Krise zu beschwören – am liebsten die des französischen Films –, die dann am Festivalende als widerlegt gelten kann.

Anders ist dabei in diesem Jahr, dass diese Krise nicht von den Filmen handelt, sondern vom Festival selbst. Statt vom nahenden Ende des Autorenkinos ist verdächtig oft die Rede vom Bedeutungsverlust der jährlichen Filmschau an der Croisette. Denn: Was braucht es noch feierliche Filmpremieren mit 2.000 in Abendrobe gekleideten Zuschauern, wenn Netflix die Filme zu über 120 Millionen Menschen nach Hause streamen kann?

Der »Netflix-Streit«, wie die Debatte um neue Distributionswege in der Filmwelt genannt wird, schwelt bereits längere Zeit. Im vergangenen Jahr waren mit der Familienkomödie »The Meyerowitz Stories« und dem anti-utopischen Ökomärchen »Okja« gleich zwei Filme aus dem Haus des Streaming-Dienstes im Wettbewerb vertreten, was zu massiven Protesten der französischen Film- und Kinowirtschaft führte. Netflix nämlich streamt seine Produktionen an den Kinos vorbei direkt zu seinen Abonnenten und bringt so Verleiher und Kinobetreiber um ihr Geschäft. Festivaldirektor Thierry Frémaux verkündete daraufhin die neue Regel, im Wettbewerb von Cannes nur noch Filme mit Aussicht auf Kinoauswertung zuzulassen. Da der Gesetzgeber in Frankreich zwischen Kinostart und Streaming ein Zeitfenster von drei Jahren vorsieht, stellt das für Netflix-Filme keine wirkliche Option dar. Und nachdem nun offenbar kein Kompromiss ausgehandelt werden konnte, zog Netflix-»Chief Content Officer« Ted Sarandos kurz vor dem Start vier hochkalibrige Produktionen aus dem Festivalprogramm ab, darunter die neuen, heiß erwarteten Werke von Paul Greengrass und Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón. Und auf einmal scheint Cannes ein Problem zu haben, das man sonst nur der Berlinale diagnostiziert: Es könnte zu wenig Stars auf dem Roten Teppich geben.

Zwar besteht das Filmprogramm in Cannes auch in diesem Jahr aus größtenteils wohlbekannten Namen, aber mit lediglich zwei amerikanischen Produktionen im Wettbewerb (Spike Lees »BlacKkKlansman« und David Robert Mitchells »Under the Silver Lake«) mangelt es etwas an jener »Superpower«, über die eben nur das Hollywood-Kino verfügt: mit seinen bekannten Figuren eine Aufregung zu entfachen, von der dann die Filme aus der Türkei, aus Russland, China, Ägypten und Libanon ebenso profitieren.

So viel Auszeichnungen der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan, der Japaner Hirokazu Koreeda oder die Iraner Jafar Panahi und Asghar Farhadi, die alle in diesem Jahr antreten, auch schon bekommen haben, wenn Topher Grace und Elvis-Enkelin Riley Keough zur Premiere von »Under the Silver Lake« kommen, kriegen auch ihre Filme etwas vom Glamour ab.

Die wahrscheinlichen Höhepunkte des Festivals sind in diesem Jahr überraschend schnell aufgezählt. Mit »Solo: A Star Wars Story« feiert ausgerechnet einer der weniger heiß erwarteten Sommerblockbuster seine Premiere in Cannes. Und so prominent Lars von Triers ebenfalls außer Konkurrenz laufender Film »The House That Jack Built« mit Uma Thurman und Matt Dillon auch besetzt ist, löst die Rückkehr des vor wenigen Jahre wegen einer Hitler-Bemerkung verbannten dänischen Skandalregisseurs zwar Aufregung, aber keine ungeteilte Freude aus.

Einem weiteren großen Highlight des Programms, dem als Abschlussfilm geplanten »The Man Who Killed Don Quixote« von Terry Gilliam, droht gar das Aufführungsverbot in letzter Minute. Das inzwischen legendäre Projekt, an dem Gilliam seit über 20 Jahren arbeitet, ist zum Zankapfel der Produzenten geworden.

Für echte Cineasten gilt die Spannung natürlich mehr Filmen wie etwa dem neuen Werk des 87-jährigen Altmeisters Jean-Luc Godard, »The Image Book« oder dem des »Gomorrah«-Regisseurs Matteo Garrone, »Dogman«. Das deutsche Kino übrigens ist einmal mehr im Wettbewerb nicht vertreten. Dafür zeigt Ulrich Köhler seinen neuen Film »In My Room« im Rahmen der Nebensektion »Un certain regard«, und Wim Wenders' Dokumentarfilm »Papst Franziskus: Ein Mann seines Wortes« bekommt eine Spezialaufführung. Die 71. Ausgabe des Festivals von Cannes wird also zweifellos eine der weniger glamourösen werden.

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