Cannes 2016: Ein deutscher Film ist Favorit auf die Goldene Palme

»Toni Erdmann« (2016). © NFP/Filmwelt

Das hat es noch nicht gegeben: Mit einer Durchschnittsbewertung von 3,8 (von höchstmöglichen 4,0) bricht Maren Ades Wettbewerbsbeitrag »Toni Erdmann« den Rekord: Noch nie, seit das britische Branchenmagazin »Screen International« seine Kritikerumfrage zum Festival veröffentlicht, erreichte ein Film eine so hohe Wertung. Doch es sind nicht allein die Punkte, die Maren Ade zum völlig überraschenden Spitzenkandidat auf die Goldene Palme machen, dafür sprechen auch die über 2000 Zuschauer, die bei der Galapremiere von Ades zugleich witzigem und zu Tränen rührendem Films so hingerissen waren, dass die Vorführung in eine acht-minütige stehende Ovation mündete. Ades Film einigt dazu noch die internationale Kritik, wie man es selten erlebt: Franzosen, Briten und Amerikaner loben die Präzision der Regie, die beiden großartigen Schauspieler Sandra Hüller und Peter Simonischek, und dass »Toni Erdmann« in Fülle etwas bietet, was sie bei den Deutschen nie vermuten würden: Humor.

Zwar gilt auf dem Filmfestival von Cannes die Regel, dass die dieses Jahr mit Stars wie Kirsten Dunst, Mads Mikkelsen, Vanessa Paradis und Donald Sutherland besetzte Jury nicht unbedingt dem Publikums- oder Kritikerfavoriten den Vorzug gibt. Doch der Hype um Maren Ades Vater-Tochter-»Dramedy« ist an der Croisette mittlerweile so groß, dass man davon ausgeht, dass »Toni Erdmann« in jedem Falle eine der begehrten Palmen erhält, wenn nicht die Goldene, dann bestimmt eine der Schauspielertrophäen. Schließlich hat auch der Jury-Präsident, der australische »Mad Max«-Regisseur George Miller, eine bereits erwachsene Tochter.

Die bisherigen Wettbewerbsfilme tragen dazu bei, dass »Toni Erdmann« bislang noch sehr alleine an der Spitze der Palmen-Kandidaten steht. Maren Ade ist dabei eine von nur vier Regisseuren im Wettbewerb, die zum ersten Mal dabei sind. Wobei zwei der Neulinge dennoch Entdeckungen sind, die hie rin Cannes gemacht wurden: Der Franzose Alain Guiraudie machte mit »Der Fremde am See« vor drei Jahren in der Nebensektion »Un certain regard« Furore. Sein neuer Film »Rester vertical« wiederholt Vieles von dem, was seinen früheren Film so originell machte, überraschende Wendungen, groteske Beobachtungen, Figuren, die sich gegen die Konventionen auch des Filmemachens verhalten, besitzt aber nicht den spannend-mysteriösen Zusammenhalt des Vorläuferfilms. Ähnliches gilt auch für den Rumänen Cristi Puiu, der bereits 2005 mit »Der Tod des Herrn Lazarescu« im »certain regard« entdeckt und ausgezeichnet wurde. Erstmals im Wettbewerb  präsentierte er seinen neuen Film »Sieranevada«, der anders als der Titel vermutet lässt, größtenteils in einer einzigen Wohnung spielt, in der sich eine verzweigte Familie zur Erinnerungsfeier für einen verstorbenen Patriarchen sammelt. Die rumänische Realismusformel wirkt hier einmal nicht ganz so bezwingend. Anders als bei Ades »Toni Erdmann« ziehen sich die drei Stunden, die der Film dauert, in die Länge und bleiben auch weitgehend ohne emotionalen Zugewinn. Die Premiere des vierten Newcomers, des Brasilianers Kleber Mendonca Filho mit »Aquarias« steht noch aus.

Die Bilanz der Cannes-Veteranen fällt unterschiedlich aus: Ken Loach präsentierte in seinem »I, Daniel Blake« eine gelungene Variante dessen, was man von ihm kennt. Ähnlich Jim Jarmusch, dem mit dem poetischen »Paterson« eine besonders charmante Neuauflage seiner lakonischen Kinokunst gelingt. Kaum fürchten muss Maren Ade aber die wie immer rar gesäte weibliche Konkurrenz: Während die Französin Nicole Garcia mit ihrem Frauenmelodram »Mal de Pierres« bei der Kritik regelrecht durchfiel, polarisiert die Britin Andrea Arnold, die bereits ihren dritten Film im Wettbewerb von Cannes präsentiert, mit ihrem »American Honey«. Zum ersten Mal in den USA angesiedelt, geht es darin um eine jugendliche Texanerin, die als Teil einer Drückerkolonne durch den amerikanischen Süden zieht. Fast ohne Handlungswendungen, nur über atmosphärisch dichte Momente und mit einer stets klaustrophobischer Nähe gehaltenen Handkamera erzählt Arnold vom amerikanischen Kapitalismus und der trotzigen Vitalität der Jugendlichen.

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