Erste Buhs, erste Ovationen

Der Wettbewerb in Cannes nimmt Kontur an

Jeder ernsthafte Filmfestivalgeher kennt ihn, den Fluch des verpassten Films: Da lässt man einen Film im Wettbewerb aus, weil man denkt: zweieinhalb Stunden Timothy Spall als Maler im England des 19. Jahrhunderts, da mach ich mal was anderes mit meiner Zeit. Und prompt hat man ein "Masterpiece of subtlety" verpasst. Im Kritikerspiegel des "Screen-Daily" bekam Mike Leighs Mr. Turner eine sensationelle Durchschnittswertung von 3,6 (die Höchstnote wäre eine glatte 4). Ich glaube, kein einziger Film im letzten Jahr brachte es so weit, selbst der von allen geliebte Blau ist eine warme Farbe nicht… Die Kollegen, die schlecht über Mr. Turner reden, sind rar gesät, und wer weiß, die zwei wollten mir vielleicht einen Gefallen tun…

Da man als Filmkritiker nun möglichst wenig über Filme schreiben soll, die man nicht gesehen hat, und umso mehr über die, in denen man einigermaßen wach geblieben ist, flugs zu den restlichen, ersten Filmen des Wettbewerbs, die dem Rennen um die Goldene Palme schon deutliche Kontur verschaffen. Als erstes wäre da von Timbuktu zu berichten, dem Film des in Mauretanien geborenen Regisseurs Abderrahmane Sissako. Soviel kann man schon sicher sagen: der Film ist eine der Entdeckungen dieses Festivals. Alle, die sich mit vorausschauender Nachsicht auf ein irgendwie gut gemeintes, irgendwie mit regionalen Eigenheiten hantierendes, aber letztlich cineastisch nicht ernst zu nehmendes afrikanisches Werk einstellten, sahen sich beschämt. Timbuktu ist vor allem filmisch ein Triumph. Dass er mit der Schilderung einer Machtergreifung durch Islamisten ein aktuelles Thema berührt, macht ihn erst in zweiter Linie wichtig. In erster Linie sind es hier die Bilder und Szenen, die in den Bann ziehen: die Wüste, das Beduinenleben, die orientalische Stadt, die Landschaft der südlichen Sahelzone – es sind teilweise Bilder von berückender Schönheit, in denen Sissako in Episoden davon erzählt, wie Dschihadisten hier versuchen das Scharia-Gesetz durchzusetzen. Die Exzesse der Grausamkeit, zu denen es dabei auch kommt, zeigt der Film kaum je explizit, es kommt ihm nicht auf den Schock an. Statt dessen gibt es einen fast irritierend zu nennenden Unterton von Ironie, der auch den "Bösen" ein menschliches Gesicht lässt. Die kriegerischen Machtergreifer haben es gewissermaßen auch nicht leicht: sie brauchen Übersetzer, um ihre Autorität bei den Einwohnern darzulegen, und manchmal muss als Relais-Sprache aufs verhasste Englisch ausgewichen werden. Fußball wird verboten, was zwei der Dschihadisten nicht davon abhält heftigst über Messi versus Zidane zu streiten. In einer der zauberhaftesten Szenen des ganzen Festivals bislang spielen die lokalen Jungs einen Pantomimenfußball ohne Ball – und an Poesie schlägt das doch glatt jene berühmte Szene aus Antonionis Blow-up. Kurzum Timbuktu läuft nun unter dem Etikett "irgendeinen Preis muss er kriegen".

Das Gegenteil gilt für Atom Egoyans Captives, von dem niemand Großes erwartet hat. Einzig sein komplizierter Erzählaufbau – man springt zwischen drei Zeitebenen – und die bestechende Szenerie der winterlichen Niagara-Wasserfall-Umgebung hält den Zuschauer für eine gewisse Zeit bei der Stange. Ein 9-jähriges Mädchen wird entführt, sieben Jahre später ist die Mutter immer noch verzweifelt und der Vater immer noch auf der Suche, während die Polizisten immer noch ein bisschen den Vater im Verdacht haben. Bis eine Polizisten verschwindet… So geheimnisvoll es sich anhört, so banal ist die Auflösung. Und die stylische Egoyansche Kälte stellt sich als Fassade mit nichts dahinter heraus. Es gab herzhafte Buhrufe.

Ein herzhaftes Buh unter etwas mattem Applaus war auch im Anschluss von Wild Tales, dem Film des Argentiniers Damian Szifron zu hören. Wie der Titel schon andeutet, handelt es sich um einen echten Episodenfilm, ein Art Kollektion von "urbanen Mythen" aus dem heutigen Argentinien. Da gibt es den von den zwei Autofahrern, der eine zeigt dem anderen den Finger und am Ende sind sie beide tot, während der Ermittler angesichts ihrer in enger Umarmung verbrannter Skelette ganz richtig auf ein "Verbrechen aus Leidenschaft" spekuliert. Und den von dem Sprengmeister, dessen Auto eines Tages abgeschleppt wird, ohne dass er sehen konnte, dass es eine Abschleppzone war… Dem Rächer der falsch Abgeschleppten jubelt am Ende der Mob auf den Straßen zu. Und den vom reichen Sohn, der eine schwangere Frau überfährt, dessen Vater sich dann umworben findet von Männern, die ein großes Geschäft wittern, wenn sie in die Bresche springen… Es sind brutal-komische Geschichten, alles andere als subtil inszeniert und gerade deshalb eine wahre Erholung für den Festivalbesucher: mal so richtig mitfiebern, wenn die Dinge ins Gewalttätige eskalieren, der Spekulant mit dem Messer niedergestochen wird und die Abschleppfirma und die Luft fliegt. Labsal für die vom vielen Schlangestehen und Gedrängelt- und Gegängeltwerden gequälte Akkreditiertenseele. 

Eine Erholung war Wild Tales vor allem deshalb, weil es am Nachmittag zuvor 3 Stunden und 16 Minuten Nuri Bilge Ceylan, Winter Sleep zu gucken gab. Ceylan gilt als haushoher Favorit auf die Goldene Palme und das, obwohl die Kritiker ganz gemischt auf seinen Film reagierten. Es ist ein Film, in dem fast ununterbrochen geredet wird. Im Zentrum steht ein ehemaliger Schauspieler, der jetzt ein beschauliches Leben im vom Vater geerbten Hotel irgendwo in der berückenden Landschaft von Kappadokien führt. Was zunächst nach modernem Dasein aussieht, entpuppt sich als fatal an feudale Herrschaftzustände erinnernd. Der Schauspieler fühlt sich als Menschenfreund; der Umgang mit seinen Mietern, mit seiner Schwester, seiner jungen Frau und seinem Vorarbeiter aber zeichnen ironisch ein anderes Bild. Es gibt ungeheuer viel zu entdecken in diesem Film, der viel von Tschechowschem Tempo und Tschechowscher Charakterzeichnung hat. Aber er macht es dem Zuschauer keinesfalls leicht. Ovationen gab es für Ceylan im Übrigen schon vor dem Film - und danach. 

Bertrand Bonellos Saint Laurent wiederum, mit zweieinhalb Stunden auch kein kurzer Film, bietet immerhin fortdauernden Augenschmaus. Und das nicht nur in Sachen Mode, auch Gaspard Ulliel in der Titelrolle sieht ausnehmend gut aus. Seine Ausdrucksmöglichkeiten erweisen sich leider als sehr begrenzt, ist er doch hauptsächlich damit beschäftigt, Saint Laurents typische Kopfhaltung mit Raucherpose zu imitieren. Schwerpunkt des Films bilden die Jahre 1967-1978, mit wenigen Ausblicken ins Alter, in dem Helmut Berger die Saint-Laurent-Rolle übernimmt. Berger immerhin gibt dem Mann auch noch im Vor-Todesstadium eine solche Aura und Melancholie, dass man sich plötzlich vom Ende her noch einmal für ihn interessiert, nachdem die endlosen Szenen von Tanz und Rausch, Drogenschlucken und Kleiderschneidern davor die Neugier haben ermüden lassen. Viel zu sagen hat Bonello nicht. Am Anfang verheißt eine Parallelmontage von YSL-Kollektionen zu den aufregenden Ereignissen um das Jahr 1970 herum einen Zeitkommentar, aber der bleibt dann aus. Hat Saint Laurent sich außer für die Hüllen für seine Zeit interessiert? Wir wissen es nicht. Die Behauptung, die ja oft über Modemacher getätigt wird, sie verstünden die Frauen besser als sie sich selbst, scheint bei Saint Laurent noch deplatzierter als sonst. Moderne Mode gleich einfache Mode gleich bequeme Mode und deshalb gut für die Frau? Kurioser Weise erweist sich deshalb als spannendste Figur der Lebensgefährte und Geschäftsmann Pierre Bergé, dem Jérémie Renier eine schöne, hungrig-wache Intensität verleiht. Seine Geschäftspraktiken immerhin haben tatsächlich das Antlitz unserer Städte verändert. Es wurde übrigens verhalten gejubelt. Bonello also vielleicht ein "irhendwas muss er kriegen"-Kandidat.  

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