Wer kriegt den Goldenen Bären?

Berlinale bot Programm der Extreme
© Dirk Michael Deckbar/ Berlinale (2014)

Von vier Menschen verreißen drei einen Film, aber für den vierten stellt er ein Meisterwerk dar. So sieht er aus, der wahre Alltag der Berlinale. Konsens gibt es nicht, dazu ist die Berlinale zu groß und zu vielfältig. Und vielleicht ist das ja ihr wahres Konzept: dass gestritten wird über Filme. Die 68. Ausgabe lieferte zumindest dafür eine gute Vorlage. Das Wettbewerbsprogramm in diesem Jahr war wie selten ein Programm der Extreme – und eines, das die Meinungen polarisierte.

Damit begegnete die Berlinale auf ihre Weise der oft geäußerten Kritik, eine Art Einheitsbrei des politisch gut Gemeinten zu präsentieren. Der Wettbewerb bestand aus Filmen, die in Genre, Thema und Form kaum hätten gegensätzlicher sein können. Da gab es das eher konventionell erzählte und dennoch berührende Alkoholiker-Drama von Gus Van Sant, »Don't Worry, He Won't Get Far on Foot«, neben dem experimentellen Essayfilm über Körpergefühl von der Rumänin Adina Pintilie, »Touch me Not«.

Das dreistündige Geschwister- und Adoleszenz-Drama »Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot« von Philipp Gröning protzte mit prallen Sommerfarben, »Season of the Devil«, die vierstündige Rockoper des Philippinen Lav Diaz über die Verbrechen des Marcos-Regimes wurde in Schwarzweiß und der Steven Soderbergh-Thriller »Unsane« gar auf iPhones gedreht. Wo der iranische Film »Pig« den Zuschauer mit schwarzem Humor locken wollte, versetzte der Norweger Erik Poppe mit seinem Film über das Breivik-Attentat von 2011, »Utøya – 22. Juli« ihn an die Stelle der Opfer und ihrer Schrecken.

Und so folgte auf jede umjubelte Premiere – und dazu gehörten in diesem Jahr neben dem Eröffnungsfilm »Isle of Dogs« von Wes Anderson doch tatsächlich gleich zwei deutsche Filme, Christian Petzolds »Transit« und Emily Atefs »3 Tage in Quibéron« – eine, die eher Dissenz auslöste.

Umso schwerer fällt es in diesem Jahr, die echten Favoriten auf den Goldenen Bären zu bestimmen. Poppes Utøya-Film erntete die wohl leidenschaftlichsten Reaktionen. Der in einer einzigen Einstellung gedrehte Film gedenkt aus Sicht der einen Fraktion der Opfer. Der anderen Fraktion sind die ästhetischen Mittel suspekt, die wahre Geschichte in eine Art Ego-Shooter-Spiel zu verwandeln. Durchaus vorstellbar, dass sich die Jury unter dem deutschen Präsidenten Tom Tykwer für dieses riskante Projekt entscheidet.

Eine Chance auf einen der großen, wenn nicht gar den größten Preis, den Goldenen Bären, rechnet man »Transit« zu. Auch Christian Petzold provoziert den Zuschauer, aber in ganz anderer Weise als Poppe. Den Stoff des Anna Seghers-Romans über ein paar versprengte Deutsche, die während des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht vor den Faschisten in Marseille landen, überträgt Petzold in die Gegenwart – ohne ihn größer den heutigen Gegebenheiten anzupassen. Die Ähnlichkeiten von damals und der Flüchtlingskrise heute fallen dadurch ins Auge, ohne aufdringlich präsentiert zu sein. »Transit« irritiert im positiven Sinne. Dass der Film trotz seines anspruchsvollen Konzepts so gut funktioniert, verdankt er nicht zuletzt dem Hauptdarsteller Franz Rogowski.

Als Favorit auf gleich mehrere Preise gilt auch der russische Beitrag »Dovlatov«. Alexej Germans Hommage an die sowjetische »Küchenintelligenzija« rekonstruiert sehr atmosphärisch die frühen 70er Jahre in Leningrad als Ära bleierner Stagnation. Künstlerisch mit fein choreographierten Plansequenzen beeindruckend und gleichzeitig von berührender Traurigkeit, kommt »Dovlatov« sowohl für die beste Regie in Frage als auch, wie »Transit«, in der Kategorie des besten Schauspielers: Milan Maric sagt in der Titelrolle mit melancholisch-spöttischem Lächeln mehr als andere in langen Monologen.

Sehr viel breiter ist das Feld der Favoritinnen auf den besten Darstellerinnen-Preis. Hier konkurrieren Ana Brun, die im paraguayischen Beitrag »Die Erbinnen« eine Frau über 50 verkörpert, die zu neuer Selbstständigkeit findet, die Norwegerin Andrea Berntzen, die in »Utøya – 22. Juli« die Hauptrolle spielt, und die deutsche Marie Bäumer, die in »3 Tage in Quibéron« die raue und zugleich verwundbare Ausstrahlung von Romy Schneider meisterhaft zur Darstellung bringt.

Bei einem Programm, das wie gesagt ganz auf die Unterschiedlichkeit der Geschmäcker setzte und zum Streit regelrecht anstiftete, sind jedoch auch ganz andere Preisentscheidungen vorstellbar.

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