Retrospektive: Christian Wahnschaffe, Teil 1 und 2 (1920/1921)

»Christian Wahnschaffe« Teil 1 (1920). Quelle: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden

Ein aktueller Roman damals, 1919 rausgekommen: »Christian Wahnschaffe«. Urban Gad verfilmte die Geschichte vom Reichen in der Armut in zwei Teilen, 1920 »Weltbrand« und 1921 »Die Flucht aus dem goldenen Kerker«. Oh, man wüsste so gerne mehr über die Produktionsgeschichte! Das muss ja ein Blockbuster gewesen sein – wie kam er an? War von Anfang an geplant, dass der zweite Teil von anderen Autoren geschrieben und von einem anderen Kameramann aufgenommen wurde? Warum wirken beide Teile wie ganz verschiedene Filme?

Christian Wahnschaffe ist das einzige, was beide zusammenhält. Conrad Veidt spielt den reichen Jüngling, im ersten Teil zart, feingliedrig, tänzerisch, stark geschminkt, im zweiten Teil weit weniger expressiv im Ausdruck, in der Kleidung, im Gehabe; wie auch Kamera, Ausstattung, Lichtsetzung sehr viel natürlicher wirken. Obwohl die Story des zweiten Teils noch hanebüchener ist als im ersten. Da dreht sich alles um eine Tänzerin namens Eva Corel, beschäftigt im Pariser Carbaret Satanas. »Eva Corel ist dein Schicksal« – der Freund erzählt Wahnschaffe von ihr, durch sie gerät er in die Kreise von russischen Anarchisten, wahlweise auch Nihilisten genannt. Er ist der Erbe eines superreichen Fabrikbesitzers, alsbald Evas Geliebter – sein Vorgänger geht vor Liebeskummer in bankrott, der Großspekulant. Wir bewegen uns in Villen und Schlössern – und zwischendrin Fritz Kortner als Anarchist, der bei Eva wichtige Geheimpapiere verstaut. Außerdem mit dabei: ein russischer Spion, und gar der russische Großfürst. In einem einzigen Zwischentitel wird Eva dessen Geliebte und damit die mächtigste Frau im russischen Reich, und schwups, sind wir in Petersburg. Übrigens im Jahr 1905. Revolution!

Reine Kolportage, das alles, Liebesabenteuer, in dem die Politik an persönlichen Beziehungen hängt – hier ist das Politische privat. Aber es gibt tolle Bilder – ein Blick durchs Fenster des Großfürstenpalastes, der Hof füllt sich mit Menschen. Später dieselbe Einstellung, nur dass am Fenster nun ein MG steht – und wir den Schützenblick einnehmen... Urban Gad stellt sich hier bedingungslos auf Seiten der Revolution, auch wenn mit deren Inhalten er sich niemals auseinandersetzt. Auf jeden Fall erkennt Wahnschaffe die Leere des Reichtums und die Freude, anderen zu helfen: Fritz Kortner lernt er kennen, als der hungrige Kinder füttert, und das findet Wahnschaffe gut.

Der zweite Teil hat gar nichts mit dem ersten zu tun. Keine Anarchisten, keine Revolution. Wahnschaffe ist der reiche Erbe, der er immer war, nur noch ein bisschen reicher. Ich will was Neues erleben, was Unerhörtes! Also geht es zu den untersten Schichten der Menschheit, und das überzeugt ihn: Seine Langeweile im Leben überwindet er, indem er einer Frau hilft, die von Werner Krauß geschlagen wurde. Er beschließt, bei den Armen zu wohnen. Jawoll, so richtig: Im Herd verbrennt er sein Geld. Mannmannmann, das soll irgendwie als große Katharsis rüberkommen, ist aber vor allem naiv. Ein reicher Möchtegern-Gutmensch, immerhin lernt er Ruth kennen, die den Armen und Kranken wirklich hilft. Das will er auch machen! Und bringt eine Perlenkette ins Haus der Armen. Was Gier, Mord und Verzweiflung bringt.

Die Perlenkette ist sowas wie der realistische Gegenpart zum »Ignifer«-Edelstein – »Stein des Lebens« – im ersten Teil, der absolut keine Bedeutung hat. Die Perlenkette schon – vor allem in der Moral von der Geschicht: Wenn die Sphäre des Reichen in die der Armen eindringt, gibt's Unglück. Dass man tunlichst beide Sphären getrennt halten soll, meint der Film nicht – sagt es aber...

Naja, man muss die Reichtumskritik nicht auf die Goldwaage legen. Ist nur ein Film, will nichts anderes sein. Und auf jeden Fall toll, diesen bisher völlig unbekannten Reißer von damals sehen zu können! Ob wohl die Reißer von heute in 100 Jahren auch mal in einer Retro laufen?

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