Retrospektive: Future Imperfect

»Ikarie XB 1« (Jindřich Polák, Tschechoslowakei 1963). © National Film Archive, Czech Republic

Science Fiction also. Dabei hätte das Jahr 2017 ja gleich zwei hochinteressante Jubiläen als Anlass für eine Berlinale-Retrospektive zu bieten: 100 Jahre russische Oktoberrevolution hätte zu revolutionärem Kino, zu Propagandafilmen, zu einem Thema von Freiheitskampf bis Terrorismus und Putsch eingeladen. Und natürlich, gerade für ein, Verzeihung: für das große deutsche Filmfestival: 100 Jahre Ufa, geboren aus dem Ersten Weltkrieg, Höhenflüge in den 1920ern, Abgrund in der Nazizeit, in den 1950ern dann eine Filmgesellschaft im Todeskampf, die einige großartige Filme hervorgebracht hat… Eine Ufa-Retro wäre was gewesen; vielleicht ist aber die Murnaustiftung inzwischen zu schwach, um ein solches Unterfangen mitzustemmen. Immerhin läuft auf der Berlinale Käutners »Schwarzer Kies« in restaurierter und rekonstruierter Fassung… Und da die Ufa im Dezember 1917 gegründet wurde, könnte man eine Retro ja auch noch im nächsten Jahr nachholen…

Science Fiction also. Inspiriert wurde dieses Thema, so führen es Rainer Rother und Annika Schaefer in der Begleitpublikation »Future Imperfect. Science. Fiction. Film« aus, von der Ausstellung in der Kinemathek »Things to Come. Science. Fiction. Film«, und zwar offenbar derart, dass sogar der Untertitel übernommen wurde. Jetzt sind im Bertz+Fischer-Verlag also gleich zwei Science-Fiction-Reader herausgekommen. Der offizielle Begleitband zur Retrospektive ist dabei erstmals nur auf englisch erschienen – ja, die Berlinale ist eben doch nicht ein, Verzeihung: das große deutsche Filmfestival, sondern, tadaa: international! Man hat sich bei der Konzeption der Retro auf die Aspekte »Dystopien« und »Begegnung mit dem Anderen« konzentriert – was so ungefähr das gesamte Genre abdeckt, von Körperfressern bis Postapokalypse. Der Begleitband »Future Imperfect« geht der Tendenz nach in Richtung düstere Visionen, und das ist in den verschiedenen Beiträgen ziemlich gut aufgeschlüsselt auf die Kinematographien verschiedener Kulturen. So wird die Zukunft filmhistorisch angegangen, vom amerikanischen Nachkriegskino bis zu den Autorenfilmern in Europa, mit besonderem Focus auf die Franzosen der Nouvelle Vague (während beispielsweise ein grandioser Italiener wie »Das zehnte Opfer« von Elio Petri zwar in einer Aufzählung, aber nicht mal im Filmregister auftauchen. Interessant auch der Essay über (fast nicht vorhandene) bundesrepublikanische Science Fiction – wobei der Autor die Fantastik im neueren Kinderfilm nicht anspricht, die immer wieder SciFi-Elemente aufnimmt von der Edelstein-Trilogie über geschrumpfte Lehrerinnen bis zur großartigen Tomi Ungerer-Zeichentrick-Adaption vom Mann im Mond.

»A World Beyond« (2015). © Walt Disney

Doch insgesamt gibt der Band einen guten Überblick über das Genre – für den im englischen bewanderten Leser: Das im übrigen wunderbar und reich bebilderte Buch hangelt sich nicht nur an der Filmauswahl der Retro entlang, sondern bietet tatsächlich dem geneigten Retro-Zuschauer wie dem interessierten Leser weltweit, außerhalb Berlins, die Gelegenheit, Science Fiction vertiefend zu erfahren.

Als sinnvolle Ergänzung kann der Band »Future Worlds. Science. Fiction.Film« gelten, der – auf deutsch! – auf ein Symposium zurückgeht zur Kinematheks-Ausstellung, in der ja auch die Wurzeln der Berlinale-Retro liegen: Hier behandeln die Autoren das Science-Fiction-Kino in unterschiedlichen Aspekten, die das Genre ausmachen. Wobei geschickt von bestimmten Details auf des große Ganze geschlossen wird. Dystopien zum Beispiel werden anhand von Ökokatastrophen erfasst; und aus einer Betrachtung von Brad Birds heillos optimistischem »Tomorrowland« (A World Beyond). Die Technik, die im Genre liegt, geht der Band beispielsweise über die physikalischen Grundlagen von »Interstellar« an und über die bundesrepublikanischen Fernsehreihen von der Mondlandung über Rainer Erler bis Hoimar von Ditfurth. Das World Building wird in den je unterschiedlichen Universen von »Star Trek« und »Star Wars« ausgeführt, von Filmen über Videogames bis Fan Fiction. Ein Werkstattbericht des Regisseurs der schwedischen TV-Serie »Real Humans«, ein Beitrag zur chinesischen Science Fiction und einer zum Phänomen des Afrofuturismus, in dem Zukunftsvisionen mit Mythen und afrikanisch/afroamerikanischen Erfahrungen sich zusammenschließen, runden den Band ab. Besonders schön: Matthias Schwarz ist in beiden Publikationen mit Essays zur osteuropäisch/russischen Science-Fiction vertreten – und er wiederholt sich nicht, vielmehr schließen seine Texte aneinander an.

Literatur:

Rainer Rother, Annika Schaefer (Hrsg.): Future Imperfect. Science. Fiction. Film. 132 Seiten, 95 Abbildungen in Farbe. In englischer Sprache. Bertz + Fischer: Berlin 2017. 19,90 Euro. Bestellmöglichkeit: jpc.de

Krisina Jaspers, Nils Warnecke, Gerlinde Waz, Rüdiger Zill (Hrsg.): Future Worlds. Science. Fiction. Film. 144 Seiten, 41 Abbildungen in Farbe. Bertz + Fischer: Berlin 2017. 16,90 Euro. Bestellmöglichkeit: jpc.de

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