Yin und Yang

Zuletzt wurde sie am 1. Juli gesichtet, als sie ein Kinderkrankenhaus besuchte. Seither ist Fan Bingbing, die bestbezahlte Schauspielerin Chinas, öffentlich nicht mehr in Erscheinung getreten. Auf ihrem sonst sehr aktiven Account bei Weibo, dem chinesischen Twitter, herrscht seit einem Monat Stille. Ihre Fans sind außer sich vor Sorge.

Acht Wochen Abwesenheit wären gewiss auch in früheren Zeiten schon eine riskante Zeitspanne für einen Filmstar gewesen. Aber heute, wo mediale Begehrlichkeiten im Minutentakt gemessen werden, ist das eine Ewigkeit. Fan Bingbings Kapital ist ihre Sichtbarkeit, nicht nur als Film- und TV-Darstellerin, sondern ebenso als Fotomodell und Wohltäterin. Auch ihre Arbeit als Modedesignerin und Produzentin verlangt nach Präsenz. Eigentlich müsste sie jetzt für die PR ihres nächsten Films „Unbreakable Spirit“ zur Verfügung stehen, der im Herbst in China startet. Warum nur gibt sie kein Lebenszeichen von sich?

Im Westen könnten wir ihr Fernbleiben mit größerer Gelassenheit zur Kenntnis nehmen. Uns ist sie hauptsächlich aus einer Episode des „X-Men“-Franchises bekannt und allenfalls noch aus Chen Kaiges „Wuji“, was für keinen der Beteiligten ein Ruhmesblatt war. In „Iron Man 3“ ist sie nur in Szenen zu sehen, die exklusiv für den chinesischen Markt bestimmt waren. Allerdings muss ich sagen, dass ich sehr neugierig wäre auf ihren Auftritt in dem frauenbewegten Spionagethriller „355“. Muss ich mich nun mit Jessica Chastain, Penelope Cruz, Marion Cotillard und Lupita Nyong'o zufriedengeben? Das wäre zu verkraften, ist aber kaum vorstellbar, denn ohne einen Anreiz für den chinesischen Markt ließe sich ein solch aufwändiges, hochkarätiges Projekt heute wohl nicht mehr stemmen.

Das Verschwinden eines Stars ist für das Publikum stets ein verdrießliches Faszinosum. Eine solche Auszeit ist in den Augen der Öffentlichkeit nicht statthaft, sie muss erklärt und gerechtfertigt werden. Ein Filmstar muss jederzeit zur Verfügung stehen. Alle Welt erhebt Anspruch auf ihn. Er darf nicht desertieren. Andernfalls würde er Fragen aufwerfen, die an unser Selbstverständnis rühren. Insgeheim möchten wir doch an eine Übereinstimmung von Rolle und Darsteller glauben, hegen die unverschämte Hoffnung, er würde jeden Leinwandmoment nicht nur spielen, sondern tatsächlich erleben. Was bedeutet es, wenn er sich nun von uns abwendet? Ohne sein Publikum ginge er doch verloren und wäre seine Leuchtkraft nutzlos.

Wir könnten das auch aus der entgegengesetzten Perspektive betrachten. Wie groß und unerträglich der Druck ist, der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stehen, führt Louis Malle in „Privatleben“ vor Augen. Er entstand 1961, als der Ruhm Brigitte Bardots seinen Zenit erreichte und sie der weltweit größte Kassenmagnet war. Die Handlung vollzieht Bardots Karriere akribisch nach; ihre Weigerung, Engagements aus Hollywood anzunehmen, wird ebenso thematisiert wie ihr Ankündigung, bald mit dem Kino Schluss zu machen. Allerdings ist „Privatleben“ kein Film darüber, wer und wie BB tatsächlich ist, sondern was es bedeutet, BB zu sein. Sie bewegt sich wie ein Geist durch ihn. Bei Dreharbeiten ist ihr Alter ego nie zu sehen. Ihre Existenz ist ein fortdauernder Belagerungszustand. Paparazzi hetzen sie wie aufgescheuchtes Wild. Den Wunsch, sich dem Zugriff der Öffentlichkeit für eine kurze Frist zu entziehen, kann der Zuschauer nachvollziehen, obwohl er natürlich zugleich das Monstrum ist.

Diese doppeldeutige Phantasie der Auszeit führt auch „Notting Hill“ vor, wo Julia Roberts die berühmteste Schauspielerin ihrer Zeit spielt, was 1999 vielleicht sogar noch stimmte. Die Komödie flirtet mit der vorbehaltlichen Rückkehr in eine Normalität, wo sie auch einmal unerkannt bleiben kann. Das ist sehr romantisch. Ich wundere mich, dass es nicht noch mehr Filme gibt, die solche „Roman Holiday“-Phantasien auf Filmstars übertragen. Wir werden darin zu paradoxen Komplizen der Verweigerung, fiebern mit unseren Idolen gegen unser tyrannisches Zuschauerinteresse. Ich fürchte jedoch, Fan Bingbings Geschichte taugt nicht dazu. Sie dürfte prosaischer sein. Es hat den Anschein, die Schauspielerin scheue die Öffentlichkeit, weil sie ins Visier der Steuerbehörden ihres Landes geraten ist. Dank eines raffinierten Tricks hat sie die tatsächlichen Höhe ihrer Gagen vor dem Fiskus verschleiern können. Ich verstehe ihn derzeit noch nicht ganz, aber sein Name gefällt mir: In China nennt man ihn die Yin-und-Yang-Methode.

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