Gut gemacht

Der letzte Tag im Leben meines Vaters war ereignisreich. Er hatte für die Mittagszeit eine Verabredung getroffen, der er mit einer gewissen Anspannung und Genugtuung entgegenblickte. »Also sind die Erinnerungen von Hermann Midding noch gefragt«, sagte er, während er Tee für sich aufgoss. Ein-, zweimal im Jahr kam es vor, dass er von sich in der dritten Person sprach.

Es war wichtig, dass er heute gut frühstückte. Sein Appetitmangel bereitete mir seit langem Sorgen. Aber ein paar Tage zuvor hatte er Erdbeermarmelade für uns gekocht, und da er Abwechslung liebte, machte ich pochierte Eier. In den Wochen seit meinem letzten Besuch hatte er mehrere Kilo abgenommen, was ich weniger dem Krebs zuschrieb, den er seit zehn Jahren einigermaßen in Schach hielt. Meinem Vater schmeckte es einfach nur, wenn er Gesellschaft hatte.

Obwohl er behauptete, in der Nacht gut geschlafen zu haben, wollte er sich ein wenig ausruhen, bevor wir zur Synagoge fuhren. Jedoch hielt er es nicht lang in seinem Sessel aus. Er hörte, dass seine Zugehfrau die Waschmaschine in Gang setzte und stellte beim Blick aus dem Fenster fest, dass auch die Wohnzimmergardinen eine Reinigung vertragen konnten. Marina kam dreimal in der Woche, und an manchen Tagen musste er sich etwas ausdenken, damit sie beschäftigt war.

Nun bat er sie, ihm einen dunklen Anzug herauszulegen. Auch wenn man den unter der dicken Jacke nicht sehen konnte, wollte er sich zu diesem Anlass festlich kleiden. Als wir in die Innenstadt fuhren, wurde er nervös, weil er sich plötzlich nicht mehr an den Namen der Schulkameradin erinnern konnte, über die er sprechen wollte. Am Tag zuvor war er ihm ohne Mühe eingefallen, und ich versicherte, dass er ihn sofort parat haben würde, sobald die Kamera lief.

Die Fernsehleute waren schon vor uns eingetroffen. Vater schimpfte, weil der Behindertenparkplatz besetzt war. Da wir beide es hassten, jemanden warten zu lassen, stieg er aus und ließ mich einen anderen Platz suchen. Als ich zum Drehort kam, hatte er sich schon mit dem Team bekannt gemacht. Vor ein paar Wochen war ein Journalist mit ihm in Kontakt getreten, der Zeitzeugen für einen Beitrag über die Reichspogromnacht suchte, die sich zum 80. Mal jährte. Vater war damals 14 Jahre alt. Er erzählte oft, dass sein Schulfreund Rolf Löwenstern am Morgen danach fehlte. Wir gingen gelegentlich zu den Stolpersteinen vor dem ehemaligen Haus der Familie, an deren Kosten er sich beteiligt hatte. Wenn er mich früher am Bahnhof in Bielefeld abholte, versäumte er nie, auf dem Mahnmal für die von dort deportierten Juden den Namen des Freundes zu suchen. Von seiner Kameradin Brigitte Zoch hatte er nie gesprochen. War die Welt der Mädchen damals noch fremd und einschüchternd für ihn? Ihre Familie konnte rechtzeitig fliehen und ging ins Exil nach Amerika. Für den Wiederaufbau der Synagoge hatte Vater sich noch als Ratsmitglied eingesetzt. Es widerstrebte ihm, sein Licht unter den Scheffel zu stellen.

Der Journalist spürte, dass er seinen Interviewpartner erst auflockern musste. Er gab ihm historische Aufnahmen in die Hand, mit deren Hilfe er mir vor laufender Kamera erläutern sollte, wie es hier ausgesehen hatte. Als ehemaliger Kommunalpolitiker war er darin geübt, Rede und Antwort zu stehen; so weit ich wusste, aber noch nie fürs Fernsehen. Trotz mehrfacher Ermahnung war er nicht davon abzubringen, in die Kamera zu blicken. Das glückte erst dank der Beharrlichkeit der Kamerafrau. Mit dem Alter hörte Vater eher auf Frauen.

Er war in seinem Element, denn er genoss es zu erzählen. Mit abrupten Themenwechseln war immer zu rechnen; Zuhören mochte er nicht so gern. Der Interviewer lenkte ihn klug, ließ ihn abschweifen, um dann nachzuhaken und ihn wieder auf Spur zu bringen. Vater hatte sich auf die Sprachregelung eingestellt, nicht mehr von der Reichskristall-, sondern der Pogromnacht zu reden. Seine Schilderung war lebhaft. Von einem bezeichnenden Aspekt hatte ich zuvor nie gehört: Der Brand der Synagoge war gelöscht worden, als er drohte, auf die Wäscherei überzugreifen, die in arischem Besitz war. Brigitte Zochs Name fiel ihm sofort ein. 

Wir fuhren schweigend heim. Der Beitrag sollte in drei Tagen ausgestrahlt werden. Um einer möglichen Enttäuschung vorzubeugen, sagte ich, aus Zeitgründen würden vielleicht nur ein paar Äußerungen von ihm einfließen. Das war ihm ohnehin klar. (Tatsächlich wurde er mehrmals gesendet; die zweite Zeitzeugin ist großartig. Sie finden ihn noch bis Donnerstag in der Mediathek des WDR, in der Lokalzeit OWL vom 8.11.) Die überbackene Zwiebelsuppe, die ich am Vortag nach einem Bocuse-Rezept gekocht hatte, schmeckte ihm – jedoch nicht so sehr wie die, die er regelmäßig mit Marina und ihrem Mann in einem kroatischen Restaurant aß. Dorthin wollten wir in den nächsten Tagen einmal gehen. In der letzten Zeit hatte ich mir angewöhnt, ihm nach einer bewältigten Anstrengung, meist waren es Arztbesuche, auf die Schulter zu klopfen und mit einem knappen »Gut gemacht« in den Mittagsschlaf zu verabschieden. Da erst bemerkte ich, dass er unrasiert war. Es wurmte ihn, dass er dies vor dem Interview vergessen hatte.

In meiner Kindheit und Jugend war er kaum da. Die Arbeit als Versandleiter einer Brotfabrik begann um vier Uhr morgens und endete nie vor dem späten Nachmittag. Die Abende waren meist Ratssitzungen, Ausschüssen, der Partei und der Gewerkschaft vorbehalten; später gehörte er dem Verwaltungsrat der örtlichen Sparkasse und der Diakoniestiftung an. Dieser Mann von entgegenkommend schmächtiger Gestalt besaß enorme Energie. Nach dem Unfalltod meines älteren Bruders Hermann übernahm er noch mehr Aufgaben. Meine Mutter hatte diese Fluchtmöglichkeit nicht.

Er wäre gerne Arzt geworden und hoffte insgeheim, ich würde es an seiner Stelle werden. Falls er enttäuscht war, dass ich den Journalismus vorzog, ließ er es sich nie anmerken. Er war schockiert, als ich den Wehrdienst verweigerte. Bald nahm er es jedoch als Beleg seiner liberalen Einstellung, dass der Sohn eines CDU-Ratsherren Zivildienst im Krankenhaus leistete. Mein Berufswunsch erfüllte ihn mit Zukunftsängsten. Obwohl Kulturjournalismus in seinen Kreisen als brotlose Kunst galt, wurde mir dort ein Respekt entgegengebracht, den ich nicht verdienen musste, sondern der mir als Sohn von Hermann Midding zufiel.

Der Tod meines Bruders war eine Zerreißprobe, die die Ehe meiner Eltern überstand. Ihr Glaube gab ihnen Kraft. Ich denke, sie waren einander auch deshalb eine Stütze, weil sie auf unterschiedliche Weise trauerten. Für Mutter war Verlust seit ihrer Kindheit ein Lebensthema, aber man durfte ihre Kraft nicht unterschätzen. Im Nachhinein scheint mir, als habe das Leben für Vater aus lauter Ausgangspunkten bestanden, neuen Kapiteln, die gemeistert werden wollten. Sie verwandelten das Totenhaus meiner Teenagerjahre allmählich in ein helleres Zuhause. Auch wenn Vater allein auf Reisen ging – nun als Vorruheständler, auf den Stadt, Partei oder Gewerkschaft gerne zurückgriffen -, waren sie unzertrennlich. Er lernte neue Vokabeln wie town twinning und sister city. Noch vor dem Mauerfall organisierte er Fahrten nach Rügen, jene Insel, auf die er als Kind verschickt worden war und die ihn davor bewahrte, wie seine Eltern an TB zu sterben.

Obwohl ich in Berlin lebte, konnten wir verlorene Zeit aufholen Wir wurden Freunde. Er rühmte sich, gemeinsam mit mir 26 Bundesstaaten der USA besucht zu haben. Als ehemaliger Politiker hatte er ein Faible dafür, die Wirklichkeit nachzubessern. Andererseits konnte er gut rechnen. Es machte ihn stolz, dass ich neugieriger auf seine Lebenserfahrungen wurde. Das war nach dem Tod meiner Mutter umso wichtiger. Er vermittelte mir gelebte Zeitgeschichte. Mich faszinierte, wie zugewandt er der Natur war. Er konnte jeden Baum, jede Pflanze, jede Vogelart beim Namen nennen. Auf die Schwalben, die im Nebengebäude nisteten, musste er in diesem Jahr lange warten. Seine große Leidenschaft war der Garten. Jeden Herbst nahm er sich vor, im nächsten Frühling weniger Dahlien zu pflanzen. Aber es wurden dann doch immer noch mehr. Er war glücklich, endlich einen guten Gärtner gefunden zu haben. Als dieser einen höheren Stundenlohn verlangte, wurde mein einfallsreich sparsamer Vater auf eine harte Probe gestellt. Aber wenn er sah, wie geschickt Jovan die Blumenschere ansetzte, war er versöhnt.

Eigentlich wollte er am Nachmittag Etiketten beschriften, um sie den Dahlien zuzuordnen, die jetzt im Winterlager verstaut waren. Aber es hielt ihn nicht im Haus. Wir mussten in die Stadt fahren, weil er plötzlich einen neuen Scherkopf für den Rasierapparat brauchte. Wie immer ging er geradewegs zur Kundendienstabteilung, damit die Verkäufer sich gleich in der Defensive fühlten. Es fehlte auch an Nachschub für die Keksdose, in der er Schokolade und Bonbons für die Nachbarskinder bereithielt. Am Wochenende hatte er die Prospekte nach Sonderangeboten durchforstet, und da er genug Rabattcoupons für eine Nackenstütze gesammelt hatte, fuhren wir in einen Supermarkt. Die Verkäufer staunten nicht schlecht, als sich der ältere Herr zur Probe aufs Bett legte und seinen Sohn aufforderte, ein Exemplar des gewünschten Kissens auszupacken. Er war ein Kunde, der seine Ansprüche geltend machen konnte.

Den ganzen Tag sprachen wir nicht mehr über das Interview. In seiner Zeit als Politiker hätte er es wohl eine Pflicht genannt. Jetzt war es eine Aufgabe. Sie verband sich mit ambivalenten Gefühlen. Die Vorurteile, die man ihn in der Kindheit gelehrt hatte, saßen ihm noch in den Knochen. Sie wirkten unbegriffen fort, aber prägten ihn nicht: Sie konnten in der persönlichen Begegnung überwunden werden. Die Krawatte, die er in seinem Sarg trägt, hatte ihm meine Freundin Bethany geschenkt, eine amerikanische Jüdin, die ihn vom ersten Tag an »Vater« nannte. Seine zweite große Reise führte nach Israel, von wo er voller Begeisterung für Staat und Menschen zurückkehrte.

Im Kaiserreich wäre er zweifellos ein guter Untertan gewesen, aber nach dem Krieg wurde er zu einem lernfähigen Demokraten. Er verstand sich besser mit Ratskollegen, die der SPD-Fraktion angehörten, oder später den Grünen. Politische Reisen unternahm er in sozialistisch regierte Länder oder solche, die einst Kriegsgegner gewesen waren. Aus England brachte er ein Modell des verbrannten Kreuzes der Kathedrale von Coventry mit, das die Bombardierung überstanden hatte. Es hängt seitdem neben dem Bild meines Bruders. Dass ich mich für die französische Kultur begeisterte, freute ihn; ebenso wie der Umstand, dass ich in den letzten Jahren entdeckte, wie reizvoll Polen ist.

Er wohnte bis zuletzt in seinem Geburtshaus. Es stand offen, war das Zentrum einer Nachbarschaft, die sich wandelte und immens verjüngte. Als in den 1990er Jahren viele Russlanddeutsche in die westfälische Provinz kamen, setzte er sich bei Behörden, Ämtern und Firmen für sie ein. Die Dankbarkeit und Loyalität, die daraus entstand, erstreckte sich über mehrere Generationen. Das war ein Familienzuwachs, den ich scherzhaft »Leibeigene« nannte. Die Flüchtlingswelle von 2015 nahm er mit gemischten Gefühlen auf, teilte aber nicht die erbitterte Wut vieler Parteikollegen auf Angela Merkel. Das Aufkommen der AfD verfolgte er mit Abscheu. Die einzige Feindschaft, die mein Vater empfand, galt den Maulwürfen, die seinen Rasen verwüsteten. Bei der Bekämpfung dieser »Partisanen« verließ er auch mal den Boden der Legalität.

Als wir abends von einem Besuch bei Nachbarn heimkehrten, klagte er über einen leichten Schwindel. Das war nichts Ungewöhnliches. Den Aperitif, den ich uns mixte, trank er mit Genuss. Großen Hunger hatte er nicht. Das war in Ordnung. Ich hätte erwartet, dass er nach den Anstrengungen früh zu Bett gehen würde. Aber er schaute noch lange fern. Filme sah er fast nie, dafür Fußball – er war Bayern-Fan, was sich eigentlich nicht gehört, in seinem Fall aber Würde besaß – und politische Magazine; am liebsten gleichzeitig. Die Fernbedienung wurde für ihn erfunden. Als er sich verabschiedete, dankte er mir für das, was ich heute für ihn getan hatte. Lachend erwiderte ich, das hast Du doch alles selbst geschafft. Heute, eine Woche später, bin ich glücklich, dass er nur von diesem Tag sprach. Das klang nicht endgültig.

Meinung zum Thema

Kommentare

obgleich mir die Familiengeschichte gut bekannt ist, haben mich die Schilderungen doch sehr berührt, und sie werden für mich eine bleibende, lebendige Erinnerung an Hermann sein.

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