Eine offene Wunde

»12 Tage« (2017). © Grandfilm

Als Raymond Depardon sich einmal, es ist schon eine ganze Weile her, mit dem Redakteur einer großen Pariser Illustrierten traf, brachte dieser eine Vokabel ins Spiel, die den Fotografen irritierte: Irrfahrt. Er konnte sich nicht recht vorstellen, wie eine solch ziellose Reise aussehen und was ihr künstlerischer Ertrag sein könne. Da ihm sein Wörterbuch keine große Hilfe war, suchte er den Leiter der psychiatrischen Abteilung des Hospitals Hôtel-Dieu auf.

Er kannte Doktor Grivois seit 1988, als er seinen Film »Urgences« (Notaufnahme) dort gedreht hatte und wusste, dass er sich mit dem Irregehen gut auskennt. Der Arzt beschrieb es ihm zunächst als ein gewöhnliches menschliches Verhalten. Aus seiner Praxis kannte er Irrgänge freilich auch als erstes Symptom einer Psychose. »Das nimmt meist keinen guten Verlauf«, erklärte Grivois dem Fotografen bedachtsam und fügte hinzu, diese psychotische Anlage sei aber schwer zu diagnostizieren, weil es eben so normal sei, in die Irre zu gehen.

Das Gespräch gibt Depardon im Vorwort eines Essay- und Fotobandes wieder, der 2000 entstand und seit vorletztem Jahr in einer hervorragenden deutschen Übersetzung vorliegt. Es ist ein schöner, beredter Auftakt zu der Irrfahrt (so lautet der Deutsche Titel des bei Vorwerk 8 erschienen Buches), auf die sich der Fotograf und Filmemacher dann tatsächlich begab, ohne dass sie jedoch je ziellos erscheint. Doktor Grivois hatte ihn ohnehin beruhigt, dass Irrfahrten bei Künstlern in der Regel ein gutes Ende nehmen. Es ist auch nützlich, den Dialog im Hinterkopf zu haben, wenn man Depardons neuen Film »12 Tage« sieht (er ist gestern angelaufen), denn dort beschäftigt ihn erneut die Frage, wie unwägbar die Grenze zwischen Normalität und Geisteskrankheit sein kann. Der Titel nimmt Bezug auf eine Gesetzesnovelle, die 2013 in Frankreich in Kraft trat und vorschreibt, dass der Zustand von unfreiwillig festgesetzten Psychiatriepatienten innerhalb von zwölf Tagen nach ihrer Einlieferung (und danach im Abstand von jeweils sechs Monaten) juristisch geprüft werden muss. Jens Balkenborg schreibt in der aktuellen Ausgabe von epd Film sehr schön über diesen Film, weshalb ich hier nur kurz auf ihn eingehen will.

Die Anhörungen besitzen jene Theatralität von Raum und Macht, die Depardon oft aufspürt, wenn er sich filmisch mit Institutionen (wie in »10. Strafkammer« über ein Pariser Bezirksgericht) auseinandersetzt. Die Patienten stehen beredsam und lebhaft für sich ein. Ihre Erzählungen sind für sie selbst kohärent (mitunter auch für den Zuschauer), die Deutung ihrer Situation hingegen oft verstiegen, aber auch komplex und poetisch. Kein »Fall« gleicht einem anderen. Einige Patienten sind sich ihrer Fragilität bewusst (»Ich bin eine offene Wunde«, sagt eine von ihnen) und fühlen sich noch nicht bereit für das Leben draußen. Andere erheben Einspruch, einer will eine politische Partei gründen und deshalb umgehend entlassen werden, denn seine »Zukunft schrumpft«. Die prüfenden Richter geben sich zuvorkommend korrekt. Sie versuchen geduldig, die wahnhafte Logik ihrer Gesprächspartner zu durchbrechen. Aber gleichviel, ob die Patienten zu Einsicht gelangen oder Widerstand leisten, ist der Ausgang der Anhörungen unweigerlich derselbe: Keiner ist für das Leben draußen bereit. Die Utopien der Antipsychiatrie scheinen in »12 Tage« erloschen. Depardons Empathie ist es nicht. Sein Blick wirkt nüchtern, aber dem großen Thema seines Kinos will er sich nicht verschließen: dem Schmerz.

Eine geschlossene Anstalt ist nicht das, was er in seinem Buch einen »annehmbaren Ort« nennt. Aber vielleicht lässt sich dennoch auf sie jene verblüffende Äußerung des weltreisenden Dokumentaristen münzen, die mir bei der ersten Lektüre besonders im Gedächtnis blieb: »Ich reise nicht gern in Länder, die ich noch nicht kenne. Ich möchte lieber wiederkommen, wiedersehen, wieder aufsuchen ...« Die wiederholte Auseinandersetzung mit der Psychiatrie ist ein zentraler Strang seiner Filmographie, der eng mit seiner Frage nach dem Ethos seines Berufs verknüpft ist.

Eine gute Fotografie ist für ihn eine, die beim Betrachten kein Gefühl von Scham und Peinlichkeit erzeugt. So etwas sagt sich nicht leicht. Diese Erkenntnis hat ihn Jahrzehnte des Versuchens und Zweifelns gekostet. Die entscheidende Erfahrung könnte dabei sein erster Besuch auf San Clemente gewesen sein, wo ein Kloster nun als geschlossene Anstalt genutzt wurde. Sie liegt auf einem Eiland vor Venedig: Wie es Gefängnisinseln gibt, gibt es auch Psychiatrieinseln.

Seinerzeit hatte sich auch in Italien dank Franco Basaglia längst die Antipsychiatriebewegung formiert, die auf Öffnung, Emanzipation und Rückführung in die Gesellschaft drängte. Depardon liebt es, Menschen zu fotografieren, die sich vor kahlen Mauern postieren. 1977 wurde ihm vorgeworfen, er sei zu weit entfernt in seinen Fotos, sei nicht wirklich eingetaucht in dieses Welt. Der Vorwurf traf ihn so tief, dass er ihn in »Irrfahrten« erneut aufgreift und im selben Jahr auch zum Ausgangspunkt seines Beitrags der Sendereihe »Kontaktabzüge« macht. Schon 1980, drei Jahre nach der Fotoreportage, kehrte nach San Clemente mit der Filmkamera zurück.

Zu Beginn seines Films wartet er geduldig mit einer heimkehrenden Patienten, eingelassen zu werden. In langen, mit Handkamera in grobkörnigem Schwarzweiß gedrehten Plansequenzen erkundet er nun diesem Refugium der Verwirrung und Verzweiflung. »Bei einer Kamerafahrt kann man nicht mogeln«, schreibt er in »Irrfahrt«. Aber während der Dreharbeiten trifft ihn ein neuer, diesmal ganz anderer Vorwurf. »Schämen sie sich!« beschimpft ihn ein behandelnder Arzt, der sich von der Kamera gestört fühlt. Es sind intime Momente, die er hier erbeutet, die Kamera dringt mannigfach in Privatsphären ein. Einmal belegt ihn eine Patientin mit einem Fluch, dennoch schenken ihm viele andere ihr Vertrauen.

Dieser Ort schließt für Depardon auch die Poesie nicht aus. Depardons Kamera dringt sacht in Phantasiewelten vor, er filmt unsichtbare Zeichnungen, die ihm ein Patient beschreibt. Die Außenwelt ist eine der Verpflichtungen, denen sich die Insassen entziehen wollen. Depardon hat »San Clemente« ebenso wie »12 Tage« im Winter gedreht, wo entlaubte Bäume von Ruhe und Unwirtlichkeit künden. Acht Jahre nach »San Clemente« dreht er erneut in einer psychiatrischen Abteilung, diesmal im Hôtel-Dieu auf der Seine-Insel in Paris. »Urgences« entsteht weitgehend in der Notfallambulanz. Die Szenen, die er filmt, sind heftiger. Die Arten von Wahn und Verletzung, die er hier einfängt, verlangen einen anderen, rohen filmischen Rhythmus. Hat er nun den richtigen Abstand gefunden? Doktor Grivois wüsste darauf eine Antwort.

In »12 Tage« bringt er sich wiederum in die Situation, eminent Privates, Vertrauliches preiszugeben. Die Persönlichkeitsrechte der Patienten bleiben dadurch gewahrt, dass ihre Namen geändert wurden. Das ist die juristische Voraussetzung für Depardons Vorhaben. Eine ungleich wichtigere ist der geschützte Raum, den er für seine Akteure schafft. Seine Filme sind ja stets eine Wette gegen die eigene Schüchternheit. Erst die Kamera liefert ihm die Legitimation, sich Anderen zu nähern. Vielleicht ist dies das beste Empfehlungsschreiben für einen Dokumentarfilmer: Indem er sein Gegenüber spüren lässt, wie sehr er die eigene Zurückhaltung überwinden muss, signalisiert er, dass er mit ihm einen Vertrag der Achtsamkeit und des Respekts schließt.

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