Ein Grenzüberwinder

Istvan Szabó. Foto: Évi Fábián (2004)

Im Februar 1993 kam der Berlinale für ein paar Stunden ihre Jury abhanden. Die Betreuer waren nicht eingeweiht, das Protokoll ratlos und die Festivalleitung erzürnt. Dann wurde bekannt, dass sie gewissermaßen von einem ihrer Mitglieder entführt worden war.

Johanna Ter Stege hatte kurzerhand einen Kleinbus gemietet, mit dem die illustre Truppe nach Leipzig fuhr, wo Istvan Szabó gerade an der Oper »Boris Godunow« inszenierte. Ich weiß nicht, wie es der Holländerin gelungen war, ihre Kollegen und Kolleginnen zu dieser Eskapade zu überreden. Aber Schauspieler können ja schon von Berufs wegen überzeugend sein. Ihre Verehrung für den ungarischen Regisseur wird ansteckend gewesen sein. Sie hatte ihm viel zu verdanken. Im Vorjahr hatten sie mit ihrem zweiten gemeinsamen Film »Süße Emma, liebe Böbe« in Berlin einen schönen Erfolg gefeiert und den Spezialpreis der Jury gewonnen. Der heimliche Ausflug der aktuellen Jury konnte dennoch nicht im Sinne der Berlinale sein. Ich meine mich jedoch zu erinnern, dass sich in den Zorn des Festivalleiters (damals noch der begnadete Choleriker Moritz de Hadeln) ein Hauch von Amüsement über so viel Chuzpe mischte.

Die Geschichte kommt Ihnen ziemlich unglaublich vor? Das würde sie mir gewiss auch, wenn ich sie nicht als Zaungast mitbekommen hätte. In dem Jahr arbeitete ich als Redakteur des Festivaljournals und musste gelegentlich an den morgendlichen Sitzungen teilnehmen. Glücklicherweise nur an wenigen; wer weiß, welche Geheimnisse ich sonst noch ausplaudern würde? Dies hingegen erscheint mir ein lässlicher Verrat zu sein. Seither habe ich jedenfalls eine Schwäche für die temperamentvolle Schauspielerin. Wie berechtigt ihre Bewunderung für ihren Regisseur war, sollte ich hingegen erst später entdecken. In den Filmen, die ich bis dahin kannte, brandauerte es mir zu sehr, es gab zu viel Gegenlicht und Weichzeichner (obwohl Lajos Koltai eigentlich ein guter Kameramann ist): »Bezaubernde Venus« wiederum fand ich zu gediegen. Meine Begeisterung wuchs erst mit der Zeit. Das war einer der schönsten cinéphilen Lernprozesse für mich. Eine Wegmarke war dabei wiederum die Berlinale, die Retrospektive über Production Design, in der ich Szabós »Feuerwehrgasse 25« entdeckte.

In zweieinhalb Wochen wird er seinen 80. Geburtstag begehen. Die Feierlichkeiten beginnt er in Berlin, wo ihm das Arsenal eine kleine Hommage mit sechs Filmen widmet. Morgen und Übermorgen stellt er zwei Filme vor, die eng mit Berlin und der Berlinale verbunden sind: am Freitag »Süße Emma, liebe Böbe« und einen Tag später »Taking Sides – Der Fall Furtwängler«. Welch großer Gewinn es sein kann, ihn dabei zu erleben, wie er neu über seine alten Filme nachdenkt, ist mir aus Locarno in guter Erinnerung. Vor ein zehn oder elf Jahren lief dort eine Retrospektive mit lauter Debütfilmen von Regisseuren, deren Karriere auf dem Festival in Tessin begonnen hatte.

Von Szabó lief »Zeit der Träumereien«, den er sich tatsächlich noch einmal ganz angesehen hatte. Beim Wiedersehen war er selbst erstaunt, mit welcher Freiheit er ihn, nur wenige Jahre nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes, realisieren konnte. Szabo entwirft darin ein Portrait seiner eigenen Generation, die in der Gesellschaft einen Platz sucht für ihre Ideale und die Mauern der Mittelmäßigkeit und des Phlegmas einreißen will. Er hat sich damals vom Ungestüm der Nouvelle Vague anstecken lassen: Freizügig erobert sich die Kamera die Straßen, wechselt zwischen Nähe und Distanz mit unberechenbarer Bewegungslust. Kühn überschreitet er Konvention, filmt mit Gegenlicht und in Zeitlupe; sogar eine Trickfilmpassage hat er eingeflochten.

Für manche Zuschauer mag Szabos Verwunderung einen vergifteten Beigeschmack besessen haben. Denn zwei Jahre zuvor war bekannt geworden, dass er als Filmstudent für den ungarischen Geheimdienst gearbeitet hat. Damit stellte sich die Frage, um welchen Preis diese Freiheit wohl erkauft war. Etliche der damals bespitzelten Kommilitonen jedoch hatten sich mit ihm solidarisch erklärt: Man habe gemeinsam Desinformation betrieben und die Berichte miteinander abgesprochen. Szabo selbst schwieg zu den Vorwürfen. Insgeheim mochte er gehofft haben, seine Kritiker würden begreifen, wie intensiv er diese biographische Verstrickung in seinen Filmen reflektiert hat. Sie sind im Nachhinein als eine unablässige Gewissensprüfung lesbar.

In »Mephisto«, »Taking Sides« und anderen Historienfilmen problematisiert er explizit das Verhältnis des Künstlers zur Macht. Die befleckten Helden, die Klaus-Maria Brandauer in den 80er Jahren für ihn spielte, sind getrieben von Ehrgeiz und frühen Kränkungen, müssen erkennen, wie leicht sie alte Überzeugungen und Weggefährten verraten können. Es sind Studien des Schamgefühls darüber, die Verstellung als Lebensform zu wählen. In den Generationsportraits der 60er Jahre und den späteren Chroniken der ungarischen (und europäischen) Identitätssuche hat Szabo sich als empfindsamer Gesellschaftsbeobachter erwiesen. Aber parallel zur Revision historischer Mythen zieht sich noch ein Unterstrom der privaten Entzauberung durch sein Werk. Es erzählt vom zerbrochenen Vertrauen in die Welt, von der Skepsis gegenüber persönlichen Bindungen. »Vater« und »Confidence« sind Schlüsselfilme über Enge und Ausflüchte aus repressiven Verhältnissen. Dabei ist er in meinen Augen letztlich ein Regisseur der Öffnung, ein eminent europäisch und international denkender Filmemacher. Kein Grenzgänger, sondern ein Grenzüberwinder. Die Zweideutigkeit seines Werks verdichtet die kleine Filmauswahl: Der Zuschauer kann in zwei Richtungen gleichzeitig gehen, die Kenntnis des ungarischen Filmemachers vertiefen und die seiner Hinwendung zum englischsprachigen Kino.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt