Das Versteck des Bastlers

Auf die Privatsphäre der Nachbarn nimmt man ja nur selten Rücksicht. Seriöse Journalisten, Biographen und Historiker halten zwar zu Lebzeiten berühmter Filmkünstler deren Wohnort in aller Regel geheim. Aber nach deren Tod geht man mit der Angabe ihrer Adressen unbekümmerter um. Das haben dann die unbescholtenen Anwohner auszubaden, wie dieses Beispiel vor Augen führt, das hoffentlich nicht zur Nachahmung anregt.

Es gibt in Paris schlechtere Orte als die Rue Courat, um sich vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Sie hat den Vorzug, ziemlich unansehnlich zu sein. In diesen Teil des 20. Arrondissements verirrt sich ohnehin kein Flaneur. Touristen bietet sie noch weniger Attraktionen; der Friedhof Père Lachaise liegt in gebührender Entfernung. Von der nächstliegenden Metro-Station (Maraichers) hat man noch nie gehört. Dass unweit ein Sportplatz liegt, der nach Louis Lumière benannt ist, genügt schwerlich, um Cinéphile in diese Gegend zu locken. Es ist zudem nicht ganz leicht,die Straße zu finden. Sie liegt im Schatten einer Bahntrasse, ist recht kurz und wechselt nach einer Kurve auch noch ihren Namen.

Alles in allem war die Straße also ein idealer Schlupfwinkel für Chris Marker, der heute vor sechs Jahren in seiner Wohnung an ihrem südlichen Ende starb; übrigens pünktlich zu seinem 91. Geburtstag. Seine Lebensumstände waren seit langer Zeit Gegenstand wilder Spekulationen gewesen. Schließlich hatte der Regisseur von »La Jetée – Am Ende des Rollfelds« und »Der schöne Mai« seit Beginn der 1960er beharrlich am eigenen Verschwinden aus der Öffentlichkeit gearbeitet. Von dem Moment an, als die Filmemacher der Nouvelle Vague zu Berühmtheiten wurden, machte er sich unsichtbar. Bisher waren nur ein, zwei Fotos von ihm bekannt, die danach entstanden. Er wollte hinter sein Werk zurücktreten, was selbstverständlich eine gewisse Neugier schürte, wie das Laboratorium wohl aussehen mochte, in dem es entstand. Seiner alten Freundin Agnès Varda erlaubte er einige Zeit vor seinem Tod, das Atelier zu fotografieren: Es mutet an wie das Büro eines anarchischen IT-Unternehmens. Ordnung und Chaos führen auf den Bildern, die sie der Zeitschrift "Positif" überließ, eine haarsträubende Ko-Existenz. Im Eingang zu der Ausstellung, die die Cinémathèque francaise ihm in diesem Sommer ausrichtet, kann man einen weiteren, nachgerade monumentalen Eindruck dieses geistreichen Durcheinanders gewinnen.

Im Ausstellungskatalog ist sogar ein Foto aus dem Jahr 2000 abgedruckt, das ihn inmitten eines Labyrinths von Rechnern, Monitoren, Tierskulpturen und überquellenden Regalen zeigt. Darauf lässt sich erahnen, dass der Unsichtbare auch in hohem Alter noch eine stattliche Erscheinung gewesen sein muss. Aufmerksam hört er einer jungen Technikerin zu, die ihm Hardware für die Montage seines Films über den Kosovo installiert. Als Eremit lebte er nicht. Zumindest kam die Welt zu ihm. Und immerhin pflegte er jahrzehntelangen Freundschaften mit Alain Resnais und Costa-Gavras, der sein letzter Vermieter gewesen war.

Nach dem Besuch der Ausstellung traf ich mit Joel Daire zum Mittagessen, der in der Cinémathèque für die Sammlungen zuständig ist. Er hatte Markers Wohnung mehrmals besichtigt, um zusammen mit einem Mitarbeiter des Auktionshauses "Christie's" eine Expertise über den Nachlass zu erstellen, der am Ende 576 Kisten umfasste. Lebhaft schilderte er mir seine Eindrücke: "Nach wenigen Minuten verstand ich, weshalb er als Berufsbezeichnung stets 'Bastler' angab. Er war ganz versessen auf technologische Neuerungen. Er lebte in einer einzigen, großen Werkstatt, die mir zugleich wie ein Spielplatz vorkam." Nach den Innenansichten dieser Wunderkammer bekam ich nun große Lust, zu dem Haus zu pilgern, aus dem all diese Schätze geborgen worden waren. Natürlich erhoffte ich mir nicht, dass es mir den Schlüssel zum Rätsel Marker in die Hand geben würde; erst recht nicht sechs Jahre später. Aber ein Pilger hegt hohe, wenngleich meist verschwommene Erwartungen.

Das Gebäude in der Rue Courat ist alles andere als herrschaftlich. Glanz und Anmut wird diese Fassade wohl nie besessen haben. Schwer vorstellbar, dass dies eine lukrative Immobilie ist (obwohl, bei den Pariser Preisen weiß man nie.) Sie ist eingezwängt zwischen den Nebengebäuden. Das Haus ist zweigeteilt, janusköpfig. Seine rechte Hälfte weicht von der Straße zurück, sodass Raum für einen kleinen, nachlässig begrünten Hof ist. Die linke, breitere Straßenfront hingegen hat schmale, hohe Fenster, die vermuten lassen, dass sich hinter ihnen einmal Werkstätten oder gar eine bescheidene Manufaktur befunden haben. Heute wohnen jedoch auch hier Leute, denn einige der Fensterbänke sind bepflanzt. Jetzt ärgerte ich mich, dass ich versäumt hatte, Joel nach der genauen Lage von Markers Appartement zu fragen. Ich nehme an, dass sie auf der linken Seite lag, denn schließlich muss es eine geräumige Atelierwohnung gewesen sein. Gewiss befand sie sich in einem der oberen Stockwerke, denn die Courat ist schmal, und vom Tageslicht profitieren nur die höheren Etagen.

Ich nahm ein paar Ansichten auf, die das Haus jedoch nie vollständig erfassten. Es mutete eminent vertikal an, trotz der ausgreifenden linken Seite, deren schmale Fenster den Eindruck aber zugleich unterstrichen. Das passte gut zur Szenographie der Ausstellung, die in einigen Räumen bewusst mit Enge und Höhe operiert. „Stimmt“, hatte mir Joel amüsiert beigepflichtet, "Marker war kein Filmemacher des Cinemascope." (Allerdings lässt er in »Sans Soleil« eine der schönsten Anmerkungen zu dem Format fallen: Das visuelle Genie der Japaner, heißt es im Off-Kommentar, habe ihnen erlaubt, es schon 1000 Jahre vor Hollywood zu erfinden.)

Nach ein paar Minuten überquerte ich die Straße und trat an die Klingelschilder heran. Welches seiner zahllosen Pseudonyme hatte Marker wohl gewählt, um sich unangemeldeten Besuchern zu erwehren? Im nächsten Augenblick beging ich einen schlimmen Fauxpas: Ich hob die Kamera über die Gitterstäbe empor, um eine Aufnahme des Gartens zu machen. Das hatte eine Bewohnerin im Erdgeschoss bemerkt. "Wohnen Sie in diesem Haus?" wollte sie wissen, was eine rhetorische, aber vor allem verärgerte Frage war. "Nein", erwiderte ich kleinlaut, "ich bin nur ein Passant, dem es an guten Manieren mangelt." Empört schloss sie ihr Fenster, nicht ohne mir zuvor ein barsches "Offensichtlich!" zuzurufen. Ich hatte eine sittliche Grenze überschritten und nun jede Chance und auch jedes Recht verwirkt, mit ihr ins Gespräch zu kommen über ihren einstigen Mitbewohner.

Verschämt zog ich von dannen. Ich wollte die Gegend so schnell wie möglich hinter mir lassen. Ob ich mich nach diesem unrühmlichen ersten Versuch trauen werde, die Adresse noch einmal aufzusuchen? Joel hatte es geflissentlich vermieden, mir auf meine Frage zu antworten, ob er Kontakt zu Markers Anwohnern geknüpft hatte. Abgeschlossen habe ich noch nicht mit dem Haus. Bei der Rückkehr nach Berlin konsultierte ich meinen zuverlässigen Architekturführer für Paris, den ich viel zu selten mit vor Ort nehme. Nein, für die Rue Courat war kein sehenswertes Bauwerk verzeichnet. Gerade jedoch fand ich im Adressenverzeichnis der französischen Post heraus, wer aktuell in diesem Gebäude wohnt. Eine Videoproduktion ist darunter, ein Architekt, eine Bildhauerin und ein Maler. Im Moment kann ich sie nur um Verzeihung bitten für meine Indiskretion. Aber eines Tages würde ich mich gern einmal mit ihnen unterhalten über ihren geheimnisvollen Nachbarn, der heute vor sechs Jahren starb.

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