Vor dem Kater 2

Bertrand Tavernier. Foto: Georges Seguin (2010)

Gestern merkte ich nicht ohne Verblüffung an, wie wenige Filmregisseure bisher öffentlich Position bezogen haben angesichts eines drohenden Wahlerfolgs des Front National. Bei der Präsidentschaftswahl vor 15 Jahren war das anders. An die Stimmung, die nach der ersten Runde herrschte, kann ich mich auch deshalb noch lebhaft erinnern, weil mich damals eine Tageszeitung bat, bei Bertrand Tavernier um ein Interview anzufragen. Der Regisseur, dem es nie an staatsbürgerlicher Erregung fehlte, sagte sofort zu. Er befand sich gerade in der Provinz, wo er einen Film vorstellte und vertrieb sich den Nachmittag im Kino. Ich solle dort anrufen, man würde ihn schon aus der Vorführung holen. Er sah gerade den Anfang von David Finchers »Panic Room«, der ihn nicht besonders fesselte.

Es wurde ein langes Gespräch; meine Übersetzung sprengte den Rahmen einer Tageszeitung. In den letzten Tagen ging es mir häufiger durch den Kopf. Ich fragte mich, wie viel sich seither an den politischen Verhältnisse geändert hat - abgesehen von den Namen der Kandidaten, wobei es sich in einem Fall nur um den Vornamen handelt. Einige Parallelen sind augenfällig – auch diesmal sind einige Kandidaten in Justizaffären verstrickt; die »double peine«, von der Tavernier spricht, ist erneut zum Thema eines Dokumentarfilms geworden. Deshalb kam ich auf die Idee, dieses kleine Fundstück politischer und persönlicher Archäologie hier erneut (leicht redigiert, aber das Kürzen fiel schwer) zu veröffentlichen. Also: Urteilen Sie selbst, ob Taverniers Befunde noch aktuell sind.

Frage: Bertrand Tavernier, Frankreich erweckt in den letzten Tagen den Eindruck eines grundlegend verunsicherten Landes. Wie erleben Sie das aktuelle Klima?

Tavernier: Die Leute fühlen sich, als seien sie mit einem schlimmen Kater aufgewacht. Am meisten erschüttert mich die geringe Wahlbeteiligung, auch wenn man einen Gutteil der Enthaltungen als Protest werten muss. Heute morgen habe ich mit einigen Lehrern gesprochen, die erzählten, viele ihrer Kollegen hätten nicht gewählt, um der Regierung einen Denkzettel dafür zu verpassen, dass sie Probleme wie die zunehmende Gewalt an den Schulen viel zu lange ignoriert hat. Nun ist der Katzenjammer groß, denn im zweiten Wahlgang hätten sie für Jospin gestimmt. Zugleich zeigen die spontanen Demonstration am Wahlabend, dass der Ausgang vor allem die Jugendlichen wie ein elektrischer Schock erwischt hat. Es herrscht aufrichtige Reue: Plötzlich müssen viele erkennen, wie fatal es ist, sich nicht am politischen Leben zu beteiligen. Sie sind aufgeschreckt, denn der Teufel steht nicht mehr vor der Tür, er ist schon im Haus.

Wodurch erklären Sie die Schwäche der französischen Linken?

Die Regierung hat sich als erschreckend technokratisch erwiesen. Man gewann den Eindruck, das sei ein Klub von Elite-Schulen-Absolventen, der keinen Bezug zur Basis hat und für den die Realität immer Unrecht hat. Diese Mischung aus Arroganz und Autismus lässt sich an der Einführung der 35-Stunden-Woche aufzeigen: Niemand hat sich Gedanken darüber gemacht, wie man der Öffentlichkeit die praktischen Auswirkungen, etwa in Krankenhäusern, vermitteln soll. Die Wähler sind enttäuscht, weil sie die Prioritäten der Sozialisten nicht mehr verstehen. Gewiss, es gab einige interessante Reformen. Natürlich sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften ein wichtiges Thema. Aber an wirklich schwierige Probleme haben sie sich nicht herangewagt, an die Arbeitslosigkeit, die Haftbedingungen in Gefängnissen oder die Obdachlosigkeit. Dafür haben sie die Quittung erhalten von Wählern, die sich diesmal für die anti-parlamentarische Linke oder die Grünen entschieden haben oder sogar für Le Pen.

Hat der Front National in traditionellen Hochburgen der Linken, etwa im Norden, hinzugewonnen, weil sie ihm allzu leicht ihre eigenen Themen überließen?

Le Pen konnte sich da forsch zum Anwalt der Benachteiligten erklären. Ich war ziemlich schockiert, dass bei den Statements am Wahlabend nur ein einziger Politiker eine wirklich sozialistische Position vertrat, der Bürgermeister von Valenciennes. Seine Haltung wird in der eigenen Partei vielfach als altmodisch abgetan, aber tatsächlich brennen den Leuten Themen wie soziale Gerechtigkeit nach wie vor unter den Nägeln. Gerade in einem so zentralistischen Land wie Frankreich darf die Regierung nicht den Eindruck erwecken, sie könne über ihren Pariser Tellerrand nicht hinaus blicken.

Dennoch waren weder Arbeitslosigkeit noch die Angst um die Renten das wahlentscheidende Thema, sondern die Innere Sicherheit.

Das Problem ist, dass Chirac eine Wahlkampagne für Jean-Marie Le Pen geführt hat! Der brauchte sich gar nicht explizit zu seinen bewährten Themen äußern und konnte sich ein überraschend sanftes Profil geben. Aber mir macht nicht nur Le Pen Angst, sondern die Leute in seinem Umfeld, seine potenziellen Nachfolger, die noch militanter sind als er.

Bei diesem Erdrutsch hat Le Pen freilich weniger als zwei Prozent hinzugewonnen. Ist das nicht eher ein Signal als ein Triumph?

Es ist ja nicht so, dass Le Pen gewonnen hat. Sondern die Demokratie hat verloren. Aber seine Stimmengewinne zeigen, dass der lange Atem, den rechtsextreme Parteien fast überall in Europa haben, Früchte trägt: Gruppierungen, die mit der Xenophobie kalkulieren, haben immer stärkeren Zulauf. Ein solches Wahlergebnis schafft zudem eine gewisse Respektabilität. Leute, die ihren Fremdenhass vorher nicht eingestanden haben, fühlen sich nun ermutigt.

Verdeutlicht die Wahl nur die Legitimationskrise der Linken? Chirac hat ein für einen Amtsinhaber beschämend niedriges Ergebnis erzielt.

Auch darin zeigt sich, das es eine Protestwahl war. In einem Land mit einer normal funktionierenden Justiz hätte Chirac längst zurücktreten müssen. Am 5. Mai bleibt nun nicht einmal Richter Halphen, der ihn wegen seiner diversen Affären zur Verantwortung ziehen wollte, keine Wahl, als für ihn zu stimmen. Das bringt das ganze Dilemma auf den Punkt. Anderseits beweisen die spontanen Demonstrationen, wie vital die Demokratie ist. Es macht mir Mut, wie rasch sich die fortschrittlichen Kräfte sammeln. Erinnern wir uns: 1934 marschierten Tausende von Faschisten auf unseren Straßen, aber schon 1936 gab es die Volksfront-Regierung.

Die Innere Sicherheit ist ein Thema, das Sie in vielen Dokumentar- und Spielfilmen verhandeln. Überhaupt ist die Wiederentdeckung sozialer Sujets ein starker Impuls im französischen Gegenwartskino. Aber ist es nicht doch ein vergeblicher Seismograph?

Im Gegenteil. Auf die Gefahr hin, hochmütig zu klingen: Die Regierenden hätten weniger Fehler gemacht, wenn sie im Kino genauer hinschauen würden. Nehmen sie den Dokumentarfilmer Christophe de Ponfilly, der seit den 80er Jahren beharrlich vor der Entwicklung in Afghanistan gewarnt hat. Der Erfolg seines Films über den Kommandanten Massoud in Pariser Kinos zeigt, dass er weit mehr Hellsicht besitzt als Chirac und Jospin, die sich weigerten, Massoud zu empfangen. Wir Filmemacher haben versucht zu verstehen, was in den Vorstädten und anderen sozialen Brennpunkten passiert. Wir gehörten zu den Ersten, die für das Bleiberecht der sans-papier demonstrierten. Ich bin überzeugt, dass die Intellektuellen den Weg geebnet haben für den letzten Wahlsieg der Sozialisten. Sobald sie an die Macht kamen, konnten wir sie nicht mehr erreichen.

Im Augenblick zeige ich hier in der Nähe von Toulouse »Histoires de vies brisées«, einen Dokumentarfilm gegen die double peine, die doppelte Bestrafung von verurteilten Einwanderern, die nach Verbüßung ihrer Haftstrafe ausgewiesen werden sollen, obwohl sie zum Teil seit Jahrzehnten bei uns leben. Die Diskussionen nach dem Film sind leidenschaftlich. Er wird von allen Verbänden unterstützt, der Liga für Menschenrechte, den Anwaltskammern, Kirchen und anti-rassistischen Initiativen. Obwohl er bereits im November herauskam, hat Jospin sehr spät darauf reagiert, erst eine Woche vor dem ersten Wahlgang hat er Position zu dem Thema bezogen. Ende des Jahres habe ich der Justizministerin eine Cassette geschickt. Ich wünschte, sie hätte die anderthalb Stunden erübrigen können - nicht, weil es ein großartiger Film ist, sondern weil sie im Augenblick über fünf schwebende Verfahren zu entscheiden hat.

 

Bestätigt der Wahlkampf für Sie Baudrillards Vorstellung vom ironischen Wähler, nicht mehr repräsentiert werden, sondern eine représentation, ein Schauspiel sehen will?

 

Tatsächlich sind die Inhalte bei dieser Wahl ganz aus dem Blickfeld geraten. Le Pens Populismus hat da einen umfassenden Einfluss auf die anderen Parteien ausgeübt. Denken Sie nur an die Vorwürfe, die Jospin gemacht wurden, weil er nicht entschieden protestierte, als die Anhänger Algeriens beim Länderspiel während der Nationalhymne gepfiffen haben! Eine weitere bezeichnende Episode dieses Wahlkampfes war die Ohrfeige, die der Kandidat der Liberalen, François Bayrou, einem Jungen bei einer Veranstaltung gab, der ihn angeblich bestehlen wollte. Da wurde in den Medien Tage lang diskutiert, ob er dadurch nun Stimmen verlieren oder hinzugewinnen würde.

 

War es also ein Wahlkampf nach amerikanischem Muster?

 

Er war viel zu stark von den PR-Beratern geprägt. Ich finde, man sollte eher eine Fernsehdiskussion zwischen den Beratern der beiden Kandidaten veranstalten, zwischen Jacques Séguéla und Chiracs Tochter Claude. Das wäre zwar so, als würden sich die Sekundanten duellieren. Aber sie sind es, die die politischen Grundlinien festlegen. Die Kandidaten könnten sich währenddessen bei einer Partie Mahjong erholen.

Grade in einem so stark von den Medien bestimmten Wahlkampf zeigen sich die Stärken eines Jean-Marie Le Pen. Kein Journalist korrigiert ihn, wenn er im Fernsehen völlig aus der Luft gegriffene Statistiken über Einwanderung und Kriminalität zitiert. Man lässt ihn gewähren, macht sein Spiel mit. Er ist gerissen, offensichtlich braucht er keine solche Armada von Beratern. Ich hege den Verdacht, seine Gegner sind ihm rhetorisch nicht gewachsen, weil sie es nicht gewohnt sind, ihre Reden selbst zu schreiben.

Aus meiner Sicht hat Jospin verloren, weil er glaubte, einen wie Séguéla zu brauchen. Auch wenn man ihm vorwirft, er sei steif, ihm fehle Charisma, so kann Jospin doch überzeugen. Er ist aufrichtig, kenntnisreich, großzügig. Da ist es nicht wichtig, ob sein Hemd die geeignete Farbe hat oder seine Krawatte richtig sitzt. Bei jemandem wie ihm schmerzt der Verlust an Authentizität besonders. Man hätte sich gewünscht, er würde mit seiner eigenen Stimme sprechen. Schauen Sie sich den Film von Raymond Depardon über Giscard d’Estaings Wahlkampf 1974 an: Da sehen Sie, dass er noch Entscheidungen traf, ohne von einem großen Beraterstab abgeschirmt zu werden. Dadurch wird einem Giscard fast schon wieder sympathisch!

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