Produktion für den Gebrauch

Die brennendste Frage, die die Welt nach dem entsetzlichen Massaker von Las Vegas beschäftigt, ist wahrscheinlich die nach dem Motiv des Todesschützen. Sie ist zugleich die aussichtsloseste: Eine Antwort wird sich nicht finden lassen. Es gibt keinen Grund dafür, 58 Menschen zu töten und 500 weitere zu verletzen.

Es wäre naiv, das Fehlen einer Antwort darauf zu schieben, dass der Attentäter selbst keinen Grund mehr nennen kann (er ist der 59te, der seinen Schüssen zum Opfer fiel) oder sie von seiner Lebensgefährtin zu erhoffen, die er frühzeitig aus der Schusslinie schaffte (vielleicht aus Furcht, sie könne ihn abhalten von seinem Plan). Dass er ein "sehr, sehr kranker Mann" gewesen sein muss, wie der US-Präsident schlussfolgerte, ist keine zufriedenstellende Erklärung. Vielmehr eine gefährliche, weil sie insgeheim auf eine Entlastung zielt: Aus ihr spricht die Argumentation der mächtigsten Lobby in den USA, die bei solchen Gelegenheiten stets betont, nicht Waffen würden töten, sondern deren Besitzer.

Diese heuchlerische Logik schien mir schon hinreichend entlarvt, als 1940 in Howard Hawks' »His Girl Friday« (Sein Mädchen für besondere Fälle) der kümmerliche John Qualen sich in der Todeszelle mit den Worten verteidigt, er habe doch nur die Gesetze der Industriegesellschaft befolgt: Production for use. Aber solange die Position der National Rifle Association unerschütterlich, der Zweite Verfassungszusatz den Amerikanern heilig ist und der Verkauf von Schokoladenüberraschungseiern strengeren Auflagen unterliegt als der von Schusswaffen, werden die USA nicht die richtige Antwort geben können die bislang klügste Frage, die nach den unfasslichen Geschehnissen gestellt wurde: Wozu braucht ein normaler US-Bürger ein Maschinengewehr?

Also verschiebt sich die Wissbegierde der Öffentlichkeit vom "Warum?" zu pragmatischeren Fragestellungen. Auch da stößt man an die Grenzen des Fassbaren. Vielleicht kann man sich noch vorstellen, es sei möglich, in einer Zeitspanne von 13 Minuten 58 Menschen zu töten. Aber wie stellt man es an, dabei auch noch 500 Leute zu verletzen? Hier scheint sich der Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten für einmal zu erfüllen. Dies sei die verheerendsten Schießerei überhaupt in den USA gewesen, hieß es sofort in den Nachrichten. Als sei diesem Schrecken mit Rechenbeispielen beizukommen. Und wer weiß, ob ein solcher Rekord nicht Nachahmer ermuntert?

In der letzten Woche sah ich mir, ein trauriger Zufall, noch einmal »Elephant« von Gus Van Sant an, der unter dem Eindruck des Massakers von Columbine entstand. Van Sant war bestürzt über die damalige Berichterstattung in den Medien, bei der es den gleichen, riesigen blinden Fleck gab. Er unterlässt es, den mordlustigen Collegeschülern in seinem Film ein Motiv zu unterstellen. Die Jugendlichen sind fast so gut ausgerüstet, wie es der Schütze von Las Vegas war. Kurz vor ihrer Bluttat wird ihnen mit der Paketpost noch umstandslos ein Maschinengewehr geliefert. Sie freuen sich mächtig über die Aufrüstung. Der Eine gibt seinem Waffenkameraden noch einen Rat mit auf den Weg, bevor sie zu ihrer Bluttat schreiten: "Most of all – have fun!" Den Ausbruch der Gewalt filmt Van Sant mit nachdrücklicher Nüchternheit. Das Töten sollte nicht aufregend, sondern hässlich und sogar langweilig wirken, sagte er in einem Interview. Keine Spur von Katharsis.

In den Drehbüchern und Regiearbeiten von Paul Schrader, ich denke da besonders an »Taxi Driver« und »Hardcore«, stehen die Explosionen der Gewalt, durchaus unter diesem Vorzeichen. Vor einigen Jahrzehnten war ich der Überzeugung, er verstünde diese amerikanische Obsession besser als viele andere Filmemacher. Von ihm stammt ein ehemals berühmtes Zitat. Ich habe verzweifelt versucht, seinen genauen Wortlauf für diesen Eintrag zu ermitteln. Ich muss ihn schuldig bleiben. Es geht dem Sinn nach darum, dass ein verzweifelter Japaner sich selbst töten, ein Amerikaner hingegen das Fenster öffnen und auf Passanten feuern würde. Ein halbes Dutzend einschlägiger Seiten habe ich konsultiert, fand dieses aber nirgendwo. Statt dessen stieß ich auf eine Menge launiger Sottisen über das Hollywoodgeschäft. Wo ist dieser Satz geblieben? Man muss hier nicht gleich eine Verschwörung vermuten, nur eine Wahrheit über sich selbst, die Amerika verdrängt.

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