Massimo oder das Geheimnis von Turin

»Träum was Schönes« (2016). © Movienet Film

In der ersten Außenszene von »Träum was Schönes« könnte man die Stadt für ein Museum halten. Man sieht nichts von ihr außer einer Reihe von Statuen. Der kleine Massimo betrachtet sie, während er mit seiner Mutter im Bus fährt. Die Denkmäler sind aus der Perspektive des Neunjährigen gefilmt, also in Untersicht. Fasziniert betrachtet er Fürsten und Kriegshelden, deren Standbilder an die heroische Geschichte Turins erinnern.

Es ist eine vielschichtige Sequenz. Die Mutter ist an seiner Seite tief in Gedanken versunken; sie bemerkt es gar nicht, als der Bus seine Endstation erreicht hat. Zwischendurch betrachtet der Junge ein junges Liebespaar, das sich küsst. Auch darauf reagiert die Mutter nicht. Rasch kehrt sein Blick also zu den Statuen zurück, die entlang der Buslinie stehen. Ob er von ihnen eine gedankliche Verbindung knüpft zu den kleinen Napoleon-Büsten, die sein Vater sammelt? Allenfalls wird er das unbewusst tun. Sein Regisseur jedoch stellt sie gewiss planvoll her. Das Motiv der erstarrten Biographien fügt sich gut in die Lebensgeschichte, die Marco Bellocchio erzählt.

In Massimos reicher Phantasie mag dieses Motiv noch einer weiteren Spur folgen, die der Film auslegt. Kurz vor der Busfahrt schaute er sich gemeinsam mit seiner Mutter im Fernsehen eine Folge von »Belphégor oder das Geheimnis des Louvre« an. Der Auftritt des hünenhaften Geistes im schwarzen Gewand und der gruseligen Maske versetzte ihn in Angst und Schrecken. Im Verlauf des Films wird sich dieser erste Eindruck verwandeln: Nach dem Tod der Mutter dient Massimo die Schreckensgestalt als ein Vertrauter, der ihm Trost spendet in seiner Einsamkeit. In Massimo Gramellinis Roman bleibt er dies bis zum Ende. Im Film bedarf der erwachsene Massimo seiner von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr. Die Ärztin, die er nach einer Panikattacke konsultiert und in die er sich daraufhin verliebt (ich kann mir selbst nicht erklären, wie ich diese wichtige, von Bérénice Bejo gespielte Figur in meiner Kritik unerwähnt lassen konnte), gibt ihm den schönen Rat: »Lassen Sie Belphégor fallen.« Bellocchios Montage jedoch zieht weiterhin Parallelen zu der Fernsehserie, um den Tod der Mutter zu entschlüsseln. Die thematischen und strukturellen Verbindungen reichen freilich weiter. Mit dem Zitat hat sich mehr in seinen Film hineingeschlichen, als dem Regisseur möglicherweise bewusst war.

In Frankreich war Claude Barmas Mehrteiler ein Phänomen. Selbst de Gaulle verfolgte gebannt jede Folge, um zu erfahren, wer sich im furchteinflößenden Kostüm des Belphégor verbarg. In Italien scheint es ähnlich gewesen zu sein. Und ich kann mich dafür verbürgen, dass dies auch hier zu Lande galt. Meine Schulkameraden und ich jedenfalls fieberten jeder neuen Episode entgegen, die im Vorabend-, damals noch Werberahmenprogramm genannt, lief. Am nächsten Tag war sie unweigerlich Pausengespräch. Claude Barma sagte mir damals schon etwas. Von ihm stammte die prächtige Serie über Vidocq, in der Claude Brasseur den zum Polizeichef geläuterten Meisterverbrecher verkörperte. Erst viel später sollte ich entdecken, dass der Autor der Romanvorlage, Arthur Bernède, zusammen mit Louis Feuillade den »Judex« erfand und an zahlreichen Drehbüchern mitwirkte.

Der Trost spendende Belphégor aus Gramellinis Roman und Bellocchios Verfilmung unterscheidet sich sehr von dem, den ich erinnere. Allerdings weichen auch meine Erinnerungen stark ab von Barmas Miniserie, die ich nun auf DVD mit beträchtlicher Entzauberungsangst wiedersah. Ich erkannte ihn wieder, ohne Frage. Aber ich war beispielsweise verblüfft, wie wenige Szenen tatsächlich im Louvre spielen. Mein Belphégor war dichter, konzentrierter gewesen. Erstaunlich, wie sich Bilder, die man fest vor Augen hat, in Wahrheit verselbstständigt haben. Das passt ganz gut zum Schemenhaften dieses Stoffes.

In der christlichen Mythologie ist Belphégor eigentlich ein Dämon, in der Serie wird er jedoch als Gott der Arglist bezeichnet. Und eigentlich tritt der Geist neben einer Statue desselben auf, mit der sie keinerlei Ähnlichkeit hat. Aber spitzfindig sollte man angesichts des mythologischen Humbug, den Barma und Bernède treiben, nicht sein. Das Fieber von Einst kehrte bei der Wiederbegegnung nicht zurück, aber die Serie ist gut gealtert. Ein junger Student, den man nie in Vorlesungen sieht (ich hatte ihn als Reporter in Erinnerung, aber da hat sich wohl Yves Reniers spätere Rolle in »Die Globetrotter« mit dieser vermischt) setzt sich in den Kopf, dem Geheimnis des Louvre-Gespensts auf die Spur zu kommen. Er verliebt sich in die Tochter des ermittelnden Kommissars (René Dary, der Gabins Kumpan in »Wenn es Nacht wird in Paris« spielt), verfällt aber gleichzeitig der melancholischen Femme Fatale Laurence (Juilette Gréco), die eine zunehmen ungreifbarere Rolle spielt. Die Gemengelage wird im Verlauf der Ermittlungen ohnehin immer komplizierter, ständig werden neue Figuren (der spätere Regisseur Med Hondo taucht kurz in einer Nebenrolle auf) hineingezogen.

Fünfeinhalb Stunden wollen eben gefüllt sein. Das Erzähltempo mutet so tückisch gemächlich an wie Antoine Duhamels legendäres Walzerthema. Andererseits steckt die Geschichte voll bizarrer Ellipsen, die nicht alle dem Budget zuzuschreiben sind. Das Drehbuch ist sprunghaft, droht manchen Faden zu verlieren, um ihn dann aber doch wieder aufzugreifen. Zeitweilig gehen die Ermittlungen weiter, quasi hinter dem Rücken des Zuschauers, der unterdessen noch an ganz anderen Erzählsträngen hängt. Das Ganze ist ein tolles Verwirrspiel: Steckt eine Verschwörung der Rosenkreuzer dahinter? In welcher Verbindung steht Lady Hodwin zu Belphégor? Und erst Laurence? Was hat es schließlich mit ihrer Zwillingsschwester auf sich, die eigentlich im Familiengrab ruhen sollte?

Barma inszeniert einige richtig gute (die Todesfalle auf dem Güterbahnhof) und ein paar kuriose (die Verfolgungsjagd durch Autowracks) Suspense-Szenen. Es veranstaltet Schauerromantik in Industrieruinen und schweift auch mal philosophisch ab. Bei all dem öffnen sich immer mal wieder Resonanzräume für Bellocchios Film: Im  Verhältnis des Kommissars zu seiner Tochter muss neu verhandelt werden, wie der Verlust von Mutter und Ehefrau gemeinsam kompensiert werden kann. Zwar geht es vielfach um Obsessionen, aus denen die Figuren sich nicht lösen können, aber der Erzählton ist nicht durchweg grimmig, darf auch mal launig sein. Barma stehen andere Register zur Verfügung als Bellocchio, er darf sich mehr Peripetien erlauben. Aber beide folgen einer Dramaturgie des Hinauszögerns, des Vorenthaltens der Wahrheit. Bei Barma ist die Latenz resolut kolportagehaft, bei Bellocchio ist sie einem blinden Fleck in der Lebensgeschichte seines Helden geschuldet. In »Belphégor« gibt es gegen Ende ein paar Demaskierungen zu viel, das Mysterium zerrinnt. Die Auflösung konnte ich damals übrigens nicht im Fernsehen verfolgen; ich glaube, das wurde von Hausaufgaben oder vom Rasenmähen vereitelt. Meine Empörung war unermesslich. Bei »Träum was Schönes« hatte ich mehr Glück. Da konnte ich direkt zuschauen, wie er in einer Erkenntnis mündet, die befreit.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt