Konsumterror

»Nocturama« (2016). © Real Fiction Filmverleih

Samir erstarrt, als er unversehens sein Ebenbild erblickt. Er schaut in keinen Spiegel oder entdeckt sich auf einen Monitor, obwohl an diesem Ort auch daran kein Mangel herrscht. Nein, er sieht eine Schaufensterpuppe, die das gleiche T-Shirt trägt. Welche Gedanken, welche Fragen mögen ihm in diesem Moment wohl den Kopf gehen? Ob er erwartet, dass sich nun ein Blickwechsel zwischen ihm und dem stummen Gegenüber entspinnt?

Vielleicht hat ihn und seine Kameraden ja tatsächlich eine Suche nach sich selbst hierhin geführt. »Nocturama« von Bertrand Bonello lässt in diesem Punkt einigen Interpretationsspielraum; er schweigt sich weitgehend aus über die Motive der sieben blutjungen Terroristen, die am Nachmittag Paris in Angst und Schrecken versetzt haben, als sie Bomben an neuralgischen (oder doch zumindest symbolträchtigen) Orten zündeten. Daraufhin verbergen sie sich in einem Luxuskaufhaus und warten den nächsten Morgen ab.

Spätestens bei der Einstellung von Samir und seinem Double hatte mich der Film. Schon davor schlug er mich in seinen Bann, aber vorerst mochte ich mich ihm nur unter Vorbehalt anvertrauen. Der Auftakt ist furios inszeniert, wenngleich bemerkenswert kühl. Bonello düpiert die Erwartungen auf einen politischen (erst recht auf einen politischen korrekten) Film, die sein Thema schürt. Wer mit dem Schrecken konfrontiert wird, sucht Antworten. Aber in »Nocturama« geht es nicht um Psychologie, sondern Anziehungskräfte. Es herrscht eine Präzision der Gesten und Blicke, die mich an die Polars von Jean-Pierre Melville und Jacques Becker erinnert. In ihr steckt keine Euphorie des Gelingens, aber wertfrei ist sie auch nicht. Die Frage, ob man so vom Terror erzählen darf, ist berechtigt. Aber sie lädt zu Kontroversen ein, die meist reflexhaft geführt werden. Bonello hat seinem Film offenen Auges eine immense Angreifbarkeit eingeschrieben. Bereits seine Prämisse ist von unbehaglicher Ambivalenz: Mit der multi-ethnischen Zusammensetzung seiner Bande, die überdies aus unterschiedlichen Schichten rekrutiert ist, formuliert er eine böse Utopie.

Im zweiten Teil, der im Kaufhaus spielt, wirft er die Figuren auf sich selbst zurück. Es wäre schön, wenn sie dabei zu einer Erkenntnis gelangten. Deshalb ist die Begegnung der T-Shirts so wichtig als Moment einer Konjunktion. Es verschafft mir immer große Genugtuung, wenn ein Film ein emblematisches Bild für sich, sein Thema und erzählerisches Vorhaben findet. Dazu braucht es gleichermaßen Evidenz und Vieldeutigkeit. Diesen Augenblick im Kaufhaus hätte auch Jacques Tati erfinden können. Bei Bonello entdeckt sich Samir als Teil der Konsumwelt. Nimmt er dabei auch seine Fremdbestimmung wahr? Darauf mag ich nicht setzen, denn Bonellos Protagonisten sind im Kern reichlich arglose Nihilisten. Samirs stummes Double konfrontiert ihn womöglich mit der eigenen Gefühllosigkeit. Emotionen schienen zuvor jedenfalls nicht im Spiel, als er und seine Kumpane ihr Zerstörungswerk in Angriff nahmen. Jedoch gab es davor schon den Blickkontakt mit einer leblosen Figur: eine seiner Komplizinnen schaute in das Antlitz einer Statue der Jeanne d'Arc, die kurz darauf in Flammen aufging. Noch ein weiteres emblematisches Bild weist der Film auf, das ebenfalls auf Spiegelbildlichkeit beruht. Es zeigt wiederum Samir, der nun eine rätselhafte goldene Maske trägt und sich in einem Kaufhausspiegel betrachtet.

Ursprünglich wollte Bonello seinen Film »Please kill me« nennen, ein Zitat aus einem Buch über Punk. Den von Hemingways Memoir inspirierten Arbeitstitel »Paris est une fête« verwarf er, als dies zum Motto der trotzig lebensfrohen Rückgewinnung der Stadt nach den Anschlägen vom November 2015 wurde. (Inzwischen ist darüber in Frankreich eine Dokumentation gleichen Titels herausgekommen.) »Nocturama« verweist zwar auf das gleichnamige Album von Nick Cave (dem im Abspann gedankt wird) und weckt zudem Assoziationen zu Bret Easton Ellis Roman »Glamourama«, in dem Topmodels gegen die Konsumwelt rebellieren. Das alles führt nicht weit. Die eigentliche Wortbedeutung indes ist aufschlussreich genug: Ein Nocturama ist im Zoo eine Gehege für nachtaktive Tiere. Im sonst menschenleeren Kaufhaus kehrt sich die Freizügigkeit um, mit der die Jugendlichen im ersten Teil über die Stadt verfügten und dabei deren Organisationsstrukturen, zumal das Verkehrsnetz, entschlossen gegen sie wendeten. Anfangs wollte Bonello einen kürzeren Film drehen. Er stellte sich eine genrehaft bündige Dauer von 80 Minuten vor. Doch dann wurden zwei Stunden daraus, weil er das Gefühl hatte, mehr Zeit mit seinen Charakteren verbringen zu müssen.

Entstanden sind die Kaufhaus-Sequenzen im berühmten, vor zehn Jahren geschlossenen »La Samaritaine«, das seither auch Leos Carax als Drehort für »Holy Motors« diente. An diesem Schauplatz offenbart sich eine innige Verwandtschaft von Warenhaus und Kino, denn auch über Filmstudios liegt ja der Fluch, als Immobilie lukrativer zu sein. Diese vielfältigen Bezüge beschäftigten mich, als ich vor zwei Monaten eine Radiosendung zu dem Thema schrieb. In der Mediathek von rbb kulturradio ist sie noch eine Weile abrufbar.

Ich wünschte, ich hätte seinerzeit »Nocturama« schon einbauen können. Er ist der Kaufhausfilm par excellence – und zugleich dessen Abgesang. Das nächtliche Warenhaus ist in der Filmgeschichte traditionell ein Ort der Anarchie. Chaplin und die Marx Brothers setzen bereits die Regeln außer Kraft, die hier tagsüber herrschen. Auch Bonello zeigt es als einen Hort der Möglichkeiten. Die reale Welt wird als ideale Warenwelt rekonstruiert. Die Terroristen benehmen sich darin jedoch als artige Konsumenten. Sie wird nicht Ziel ihrer Zerstörungswut. Das Ausmaß an Unbegriffenem ist enorm. In einem sacht bizarren Moment gratuliert einer von ihnen einem anderen zu seinem prächtig sitzenden Anzug und dieser bedankt sich ohne den geringsten Anflug von Ironie. Letztlich ist dies jedoch eine klaustrophobe Szenerie, in der stets das Risiko des Realitätsverlustes lauert. Manche Augenblicke wiederholen sich, als würde die Nadel in der Rille einer Schallplatte festhaken. Aber eigentlich genügt im Kino schon der Anblick einer Schaufensterpuppe, um sich fragen, was nun Wirklichkeit ist und was nur ein Traum.

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