Kindersicherung für Erwachsene

»Wonder Woman« (2017). © Warner Bros. Pictures

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit bekomme ich wieder einmal Lust, einen Superhelden-Film zu sehen. Letzthin sah ich wenig Anlass, mich im Marvel- oder DC-Universum zu tummeln. Dabei mögen mir einige Perlen entgangen sein. Das soll mir bei »Wonder Woman« nicht passieren.

Allerdings befinde ich mich auch in der glücklichen Lage, nicht im Libanon, Tunesien oder einem der anderen arabischen Staaten zu leben. Dort ist der Film verboten, weil die Hauptrolle von der »zionistischen Schauspielerin« Gal Gadot verkörpert wird. Sie zog den Furor der Zensoren auf sich, weil sie vor Beginn ihrer Filmkarriere der israelischen Armee angehörte. Gab es in den 60ern Boykottaufrufe gegen die Filme mit Daliah Lavi, die in ihrer Heimat ebenfalls Dienst an der Waffe geleistet hatte? Allem Anschein nach nicht, wohl aber gegen »Ben Hur«, weil darin die israelische Schauspielerin Haya Hayareet mitwirkte, und »Exodus« sowie weitere Filme mit Paul Newman, der als Israel-Freund aufgefallen war. Auch Liz Taylor und Danny Kaye standen unter Verdacht, zionistische Agenten zu sein.

Überdies habe ich das Glück, kein Zuschauer von »Fox News« zu sein. Für einige Moderatoren des US-Senders verkörpert die Amazone all das, was in Amerika momentan schief läuft: Sie ist das Indiz eines verheerenden Mangels an Patriotismus. Schließlich trägt sie nicht, anders als in ihren Comic-Abenteuern und der holprigen TV-Serie, eine Rüstung in red, white and blue. Die ironiefreien Moderatoren empfahlen ihren Zuschauern, lieber in »Baywatch« zu gehen, der ihrer Farbenlehre eher entspricht. Nach Trailer und Szenenfotos zu urteilen, steht Gadot das unamerikanische Rot, Gold und Blau allerdings prächtig. Ich bin ziemlich gespannt, was es wohl mit ihrem Wahrheits-Lasso auf sich hat. Die enthusiastischen Kritiken, die allerorten zu lesen sind, scheinen keinen hinreichenden Verdachtsgrund für eine Weltverschwörung zu liefern.

Außerdem hat »Wonder Woman« den Vorzug, nicht von Columbia produziert worden zu sein. Das Studio hat in diesem Monat den Unmut von Filmemachern und mündigen Zuschauern erregt, weil es familienfreundliche Versionen von 24 Filmen für den Home-Entertainment-Bereich anbietet. Diese »Clean Version« genannte Initiative tilgt drastische Gewaltdarstellungen, obszöne Dialoge und sexuelle Anspielungen aus Filmen, die mit einem PG-13 oder R-Rating in die Kinos kamen und sich nun in unverfängliche Unterhaltung für alle Altersgruppen verwandeln sollen. Darunter sind »Captain Philipps«, »Hancock« und mehrere »Spider-Man«-Episoden. Der Werbeslogan ist pfiffig (»You're going to need a bigger couch«), der Clip jedoch so naiv, dass man ihn für Realsatire halten könnte. Inzwischen ist er von der Webseite verschwunden. Der Spott war wohl zu groß.

Nach heftigen Protesten, unter anderem von Seiten der Regisseursgilde, lenkte das Studio gestern ein und will zensierte Fassungen nur noch mit Zustimmung der Filmemacher anbieten. Damit könnte das Ärgernis vom Tisch sein. Im Verlauf des letzten Jahres mussten bereits zwei Streamingdienste mit ähnlichen Angeboten aufgeben. Die Firma »VidAngel« verlor den Prozess, den mehrere Studios wegen Verletzung ihres Urheberrechts gegen sie angestrengt hatten. Auch »CleanPlay« bietet seit Februar vorerst keine verstümmelten Versionen mehr an. Der Fall »Clean Version« stellt einen Besorgnis erregenden Dammbruch dar, weil hier erstmals ein Studio das eigene Copyright verletzt. Die Hollywood Majors bemühen sich zwar in den letzten Jahren verstärkt, jugendfreie Filme, die sämtliche Zuschauersegmente ins Kino locken, zu produzieren. Niemand soll verstört werden, es darf keine nackte Haut und keine Kontroversen geben. Im Gegenzug spielten Comic-Verfilmungen wie »Deadpool« und »Wolverine« letzthin enorme Summen ein, obwohl sie ein R-Rating hatten.

In dieser widersprüchlichen Gemengelage scheinen keimfreie Streamingangebote ein lukratives Geschäftsmodell. Die einschlägigen Firmen verfolgen noch eine andere Agenda. Sie sind meist in Utah ansässig, der wegen seiner emsigen Einwohner gern beehive state genannt wird. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind Mormonen - eine der sittenstrengsten und, da ihre Kirche Abstinenz von Rauschmitteln aller Art predigt, zugleich gesündesten Volksgruppen der USA. Bereits zu Beginn des Jahrtausends machten Unternehmen wie »CleanFlicks« von sich reden, die der Kundschaft ihrer Videotheken einen unbefleckten Filmgenuss versprachen. Sie trugen Sorge dafür, dass den Zuschauern erspart blieb, die eigenen Augen und die ihrer Kinder bei den Sexszenen in »Titanic« oder »Der mit dem Wolf tanzt« zu verdecken. Und zu Beginn von Spielbergs »Der Soldat James Ryan« opfern zwar immer noch amerikanische GIs in der Normandie ihr Leben für Freiheit, Demokratie und Ehre, aber ihre Kinder und Enkel mussten nicht mehr mit ansehen, wie sie von einer Kugel getroffen werden oder auch nur einen einzigen Tropfen Blut vergießen. Den kleinen, nach dem 11. September aber rasch wachsenden Markt teilte sich ein gutes Dutzend Firmen, die unterschiedliche Verfahren anwandten. Während »CleanFlicks« anstößige Szenen aus Videokopien schlicht herausschnitt, bot die Konkurrenz »Family Shield« Filter an, die zwischen Fernseher und Video- oder DVD-Player geschaltet werden konnten und entsprechende Bild- und Tonpassagen ausblendeten. Bei »Movie Mask« konnte sich der Kunde eine Software herunterladen, die für jeden Film präzis codiert war und ihm drei Dutzend verschiedener Varianten offerierte, darunter sogar die Originalfassung.

Diese Mischung aus naivem Kinderglauben und Geschäftssinn (»MovieMask« verpasste nicht nur Kate Winslet in »Titanic« ein züchtiges Korsett, sondern verhandelte auch über neue Möglichkeiten des Product Placement) mutet heute töricht und archaisch an. Aber solch brachiale Pietät kann erneut aufflackern, zumal vor anderthalb Jahrzehnten unbekannte Techniken digitaler Manipulation zu Gebot stehen. Interessanterweise wurde die damalige Debatte nicht über die Doppelmoral der emsigen Zensoren und ihre puritanische Bilderfeindlichkeit geführt. In einem Land, in dem jede Filmkritik mit einem Hinweis auf die Altersfreigabe und einer Warnung vor Sex- oder Gewaltszenen endet, ist man es gewohnt, auf das sittliche Empfinden des breiten Publikums Rücksicht zu nehmen. Die Directors' Guild lief Sturm gegen die Urheberrechtsverletzung, aber die Studios hielten sich auffällig zurück. Die Unternehmen aus Utah kennen ihre Kundschaft genau: empfindsame, konservative Familienmenschen, die schon immer argwöhnten, dass Hollywood das Böse in ihr Haus trägt.

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