Inspiration am Fließband

»Abgedreht« (2008). © Senator/Central

Zwischen zehn und 15 Filme starten allwöchentlich neu in unseren Kinos. Diese Anzahl markierte vor einigen Jahren noch einen erheblichen Anstieg, hat sich seither aber relativ stabil gehalten. Wie es scheint, hat daran bislang auch der Zuwachs von Streaminangeboten nichts geändert. Dieses Angebot ermöglicht dem Kinogänger im Prinzip eine Auswahl und bleibt zugleich überschaubar.

Dieses quantitativ hohe Niveau wirft für Verleiher, Kinobetreiber und Medien jedoch verstärkt das Problem der Sichtbarkeit und Verdrängung auf. Nicht jeder neue Film findet ausreichend Abspielstätten und in den Feuilletons ist selten genug Platz, alle Neustarts zu besprechen. Die »New York Times« beispielsweise erregte unlängst Aufsehen mit der Ankündigung, sie könne fortan nicht mehr zu jedem Film, der in New York anläuft, eine Kritik veröffentlichen. Die Streitfrage, ob es zu viele oder nicht genug Filme gibt, hat sich mit der digitalen Revolution verschärft. Sie ist ein Instrument der Ermächtigung, das zugleich die Erwartungen an ästhetische Qualität verändert hat.

Natürlich beschäftigt dieses Problem auch Filmemacher, die sich nun einer größeren Konkurrenz gegenüber sehen. Darauf müssen sie nicht zwangsläufig als Einzelkämpfer reagieren. Der französische Regisseur und Produzent Robert Guédiguian beispielsweise demonstrierte vor ein paar Jahren in einem Interview eine eminent gewährende Haltung. Auf die Frage, ob der französische Filmmarkt denn mehr als 150 Eigenproduktionen jährlich tragen könne, erwiderte er emphatisch, es müssten sogar 200 oder noch viel mehr werden, damit junge Talente eine Chance bekämen. Seither hat nicht nur Frankreich diese Marke erreicht, zuweilen gilt das auch für das deutsche Kino, obwohl es nicht über vergleichbare industrielle Strukturen verfügt.

Michel Gondry gehört anscheinend ebenfalls zu der Fraktion, für die es nicht genug geben kann. 2009 hat der Franzose ein Projekt ins Leben gerufen, mit dem er das Filmemachen demokratisieren und Konsumenten in Kreative verwandeln will. In Zeiten des Smartphones könnte man natürlich einwenden, diese Vision sei längst Realität. Aber derlei Apparate haben das Aufnehmen bewegter Bilder nicht nur vereinfacht, sondern banalisiert. Gondry hingegen will dem Filmemachen seinen alten Zauber zurückerstatten. Er nennt sein Projekt »Usine des films amateurs«, Fabrik für Amateurfilme, was aus mehreren Gründen ein schöner Name ist. Er weckt Assoziationen zum ersten Film der Brüder Lumière (obgleich Gondry natürlich eher der zweiten, der Méliès-Schule unter den Filmemachern angehört) und dem »Amateur« haftet im Französischen der Beiklang des Liebhabers an.

Zudem hat der Name den Vorteil, präzis zu beschreiben, worum es geht. Innerhalb von drei Stunden kann man in dieser Fabrik seinen eigenen Kurzfilm drehen. Dafür stehen Kameras und ein ganzer Schwung verschiedener Dekors bereit. Angesichts der kurzen Drehzeit empfiehlt es sich, eine ausgearbeitete Idee im Kopf zu haben, keine Zweiflernatur zu sein und über gewisse soziale Fähigkeiten zu verfügen, denn das Projekt betont den kollektiven Aspekt des Filmemachens. Die Aufgaben müssen rasch verteilt werden. Wie in dieser kurzen Spanne Schnitt uznd Nachproduktion bewältigt werden sollen, ist mir ein Rätsel. Gondry legt Wert darauf, dass kein Einzelner als Regisseur auftritt und die alleinige Autorenschaft für sich beansprucht.

Dieses sympathische Vorhaben hat er seitdem in sieben Städten, darunter Casablanca, Sao Paulo und Tokio, in die Tat umgesetzt. Auf diese Weise sind bislang über 3500 Filme entstanden, an denen rund 50000 Filmamateure beteiligt waren und die von mehr als einer Dreiviertel Million Fabrikbesuchern gesehen wurden. Ihre Verbreitung im Internet widerspricht Gondrys haptischem Konzept, die Filmemacher bekommen am Schluss eine DVD ihres Werks, die dann zirkulieren kann. Ein befreundeter Kollege hat die Werkstatt einmal für ein paar Stunden besucht, als sie im Pariser Centre Pompidou veranstaltet wurde (in offenbar sehr verschmitzten Dekors) und konnte danach auch ein, zwei der gerade entstandenen Kurzfilme sehen. Beides schilderte er als ein ziemlich vergnügliches Erlebnis.

Von heute an macht dies ambulante Filmstudio nun Station im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt/Main. »Abgedreht! Die Filmfabrik von Michel Gondry« läuft bis zum 28. Januar 2018; Interessierte können sich unter filmfabrik@deutsches-filminstitut.de anmelden. Auf dem Plakat sind zwei Filmamateure reiferen Alters abgebildet, aber ich vermute, diese Unternehmung wird vor allem jüngere Filmliebhaber reizen. Gondry hat in den jeweiligen Ländern unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Einen besonders starken Eindruck hinterließ bei ihm die Arbeit einiger Jugendlicher aus brasilianischen Favelas, die nie zuvor im Kino gewesen waren.

Auf die Idee brachte ihn ein New Yorker Galerist, der »Abgedreht« gesehen hatte, Gondrys Film über eine wackere kleine Videothek in New Jersey, die so etwas wie den kulturellen Mittelpunkt des heruntergekommenen Viertels darstellt. Obwohl der Film 2008 entstand, bieten die Angestellten tatsächlich noch Videocassetten an, was den hübschen Originaltitel »Be kind, rewind« erklärt. Als der Inhalt der Cassetten gelöscht wird, drehen die Angestellten die Filme kurzerhand neu. Bald entsteht eine immense Nachfrage nach den laienhaften Remakes, die unweigerlich auch etwas über das Leben in diesem Viertel erzählen. Ich denke, auch die Filmfabrik begreift Gondry in erster Linie als ein soziales Projekt.

Mich erstaunt nur, dass er nicht er selbst, sondern ein Galeriebesitzer auf die Idee kam. Sie passt wie angegossen zu ihm. Er versteht etwas davon, wie man Filme aus dem Ärmel schüttelt. Das gilt nicht nur für seine Videoclips. Zur Wiedereröffnung des »Forum des images« in Paris überraschte er vor einigen Jahren das Publikum mit einem wunderbar übersprudelnden Kurzfilm, den ich gern noch einmal wiedersehen würde. Gondry ist der Retro-Utopist, der unbekümmerte Bastler unter den modernen Filmemachern. Er greift noch immer gern auf vermeintlich angestaubte Techniken wie Stopptricks zurück. Für ihn entsteht die Magie des Kinos noch aus Tüftelei und Handarbeit. Hoffen wir, dass er in Frankfurt viele Nachahmer findet.

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