Geige oder Violine?

»La Mélodie – Der Klang von Paris« (2017). © Prokino

Habe ich Ihnen eigentlich schon meine Theorie des erfreulichen Schauspielers vorgestellt? Wenn nicht, ist das vielleicht ganz gut so. Ihr Nutzen könnte erschreckend gering sein. Und als Theorie steht sie vorerst noch auf ziemlich wackligen Beinen. Derzeit besteht sie nur aus einer Reihe allerdings kluger Vorlieben.

Am einfachsten lässt sie sich im Vergleichsprinzip darstellen; sie verlangt nach dem Komparativ. Berühmte Gespanne eignen sich hierfür hervorragend. Kirk Douglas und Burt Lancaster etwa oder Doris Day und Rock Hudson (wobei die Angelegenheit durch ihre famose Bereitschaft verkompliziert wird, den undankbareren Part zu übernehmen). Zweifelsohne ist Walther Matthau ein sympathischerer Schauspieler als Jack Lemmon. Nicht umsonst rätselte die große amerikanische Kritikerin Pauline Kael, nachdem sie Lemmon in diversen Rollen gesehen hatte: »Was will er bloß von uns?« Und wenn ich die Wahl zwischen Marlon Brando oder James Dean hätte, würde ich mich in jedem Fall für Montgomery Clift entscheiden.

Die Hierarchie der Erfreulichkeit hat wenig mit Rollenbildern zu tun. Matthau war auf den ersten Blick ja immer der unangenehmere Zeitgenosse. Auch Mutmaßungen über den tatsächlichen Charakter der Darsteller sind der Theorie nicht dienlich, wenngleich sie unterschwellig wohl einen Ausschlag geben. Ebenso wenig liefert uns ihr Talent nützliche Anhaltspunkte. Der Elan ist bereits ein zuverlässigerer Maßstab. Der Gegensatz zwischen Hingabe an die Rolle und demonstrativer Anstrengung, zwischen Diskretion und dem Buhlen um Aufmerksamkeit, ist ein verlässliches Indiz, was wirklich von einem Darsteller zu halten ist. .

Ein aktuelles Beispiel, an dem sich diese Dualität entwickeln lässt, ist das gelegentliche und bei diesen Gelegenheit stets enorm erfolgreiche Gespann Dany Boon und Kad Merad. Keine Frage, wer hier zu bevorzugen ist. Bei Boon fängt das Elend schon damit an, dass er auf den Plakatmotiven seiner Filme unweigerlich Grimassen schneiden muss. Die Anzahl der Zuschauer, die er damit animiert, muss meine Theorie nicht torpedieren: Sein Buhlen verfängt eben. Während er bislang fast ausschließlich als Komiker in Erscheinung trat (er ist ein ursprüngliches Bühnentemperament, das geschickt den Absprung zum Kino geschafft hat), hat Merad einen größeren Facettenreichtum bewiesen. Er ist ein Schauspieler, der auch in Komödien auftritt. Dieser Unterschied ist für meine Argumentation noch nicht maßgeblich. Aber ihr Selbstverständnis unterscheidet sich erheblich, wie ich bei Interviews mit ihnen bemerkte.

Ich fragte sie unabhängig voneinander, wer großzügiger sei, wer mehr investieren müsse: der Komiker oder der Schauspieler? Boon wollte keinen Unterschied zwischen den Metiers entdecken, Merad sehr wohl. Er fand, dass ein Komiker mehr von sich preisgibt. »Er nimmt sich selbst weniger ernst, hat keine Angst, sich lächerlich zu machen,« sagte er. »Ich weiß, dass ich in burlesken Filmen gut funktioniere. In komplexeren Rollen fühle ich mich unwohl.« Während Boon von keinerlei Zweifeln angefochten schien, gab Merad die gewährendere, bescheidenere Antwort. Indes ist er, wie wir seit »Keine Sorge, mir geht's gut« wissen und nun in »La Mélodie – der Klang von Paris« bestätigt finden können, vorzüglich in komplexen. Rollen. Er ist ihren Herausforderungen gewachsen, wächst auch an ihnen. In Dany Boons Fortsetzung von »Willkommen bei den Sch'tis« wirkt er offenbar nicht mit, was eine gescheite Entscheidung ist.

Der Vergleich zwischen den Geigern, die sie in »La Mélodie« respektive in »Nichts zu verschenken« spielt, ist erhellend. Beide sind überdies Väter von Töchtern, die versuchen wollen oder müssen, eine neue Beziehung zu ihnen aufzubauen. Als Komiker muss Boon eher Gegen- als Mitspieler finden. (Bei den »Sch'tis« gelang ihnen ein Miteinander.) Er spielt einen notorischen Geizkragen, dem Film entgeht allerdings die Ironie, dass sein Beruf Großzügigkeit impliziert. In »La Mélodie« hingegen wird überdeutlich, dass Musizieren auch bedeutet, andere an der Freude teilhaben zu lassen: Die Musik stiftet in Rachid Hamis Film sozialen Frieden. Die Gegensätzlichkeit ihrer Darstellungen ließe sich weiter durch deklinieren: Der Instinkt des Komikers verleitet Boon dazu, Konflikte zu sentimentalisieren. Er sucht die Pointe, was Merad nicht zu Gebote steht, denn die Stille seiner Figur lässt keine zu - sie ist übrigens humorlos, sichtlich ungeübt im Scherzen. Nun aber genug der ungerechten Vergleiche, fortan geht es auch ohne Komparativ.

Merads Darstellung ist »La Mélodie« ist keine, mit der sich Preise erheischen lassen. Sie will nicht herausragen. Vielmehr stellt sie eine inspirierte Arbeit an der Figur dar, der Merad bereits durch den Gestus seines Spiels eine Back story gibt. Der Violinist Simon wirkt eingangs erloschen, er spricht gedämpft, sein Habitus ist bedächtig. Man fragt sich, was er hinter der leisen, strengen Wesensart verbirgt. Er scheint eine Art von Buße zu üben. Merad hat seinen Schädel seines Haarkranzes und Bartes entkleidet, was ihn asketischer, ungeschützter wirken lässt.

Beruflich scheint Simon in einer Krise zu stecken. Er soll eine Schulklasse in einem sozialen Brennpunkt unterrichten, die am Ende des Schuljahres die »Scheherazade« von Rimsky-Korsakow aufführen will. Er fällt aus dieser Welt, wenngleich sein Nachname Daoud auf Wurzeln im Maghreb schließen lässt. Wie soll dieser stille Mann sich gegen eine aufgeweckt lärmende Klasse durchsetzen? Es gelingt ihm, in einem Duell der Lautstärken – sein erster Sieg ist eine Sekunde der Stille - und unterschiedlichen Lebenstempi. Der noch ungeübte Pädagoge Simon holt die Schüler nicht ab, sondern zeigt die Richtung auf, in die sie gehen sollen. Wenn er auf seinem Instrument spielt, will er sie nicht durch dessen Zauber bestechen, sondern die Schüler in ihn einweihen.

Es gibt einen begabten Schüler, Arnold, den er sogleich fördern will. Das ist ungerecht gegenüber der Klasse, nutzt später aber allen. Simon begleitet den Jungen zuweilen auf dem Rückweg von der Schule. Sie kommen auf ihre Familien zu sprechen. Arnold ist tief verletzt, weil er seinen leiblichen Vater nie kennenlernte. Der Lehrer würde gern Frieden schließen mit seiner Tochter, die er verscheucht hat mit hohen Ansprüchen. Das Zusammenleben wird nicht leicht gewesen sein mit einem Mann und Vater, der so sehr auf die Musik fixiert ist. (Ein schönes, unaufdringliches Detail ist Simons Wahrnehmung von Orten: Er begreift sie als akustische Räume.) Die Zwei kommen sich nahe, ohne dass der Film dies durch Rührseligkeit banalisieren würde. Simon spürt seine Verantwortung. Er entwickelt den Respekt, den ein Lehrer seinen Schülern schuldet. Nach einem Konzert merkt er, dass ihm der Spaß am Spielen abhanden gekommen ist. Das muss nicht unwiderruflich sein. Aber der Unterricht bereitet ihm jetzt die hellere Freude. Er würde Verrat begehen, ließe er sie allein. Irgendwann darf Simon zurücktreten und der Film die Perspektive Arnolds und seiner Kameraden einnehmen. Ein guter Pädagoge arbeitet insgeheim an seiner späteren Entbehrlichkeit. Das zeichnet auch den erfreulichen Schauspieler aus: Er weiß, wann die Geschichte der anderen interessanter wird.

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