Die Intelligenz einer Maschine

Stanley Kubrick mit der Arriflex 35BL-II mit 1000′ mag, Finder Extension, Video Assist und ARRI 6.6 x 6.6 Matte Box am Set von »The Shining« (1980).

Die Filmgeschichte bedarf ja stets der Nachbesserung. Falls die Wirklichkeit einmal eine Spur zu prosaisch erscheint, ist auf Jean-Luc Godard glücklicherweise meist Verlass. Wenn er sich einen Reim auf die Welt im Allgemeinen und das Kino im Besonderen macht, ist der Weg zur Parabel nie weit.

So geschah es auch in der legendären Fernsehreihe »Cinéma Cinémas«, die 1984 von den Dreharbeiten zu seinem Film »Detektive« berichtete. Im Verlauf der Sendung kanzelte er seinen Kameramann Bruno Nuytten nach allen Regeln der Kunst ab. »Du hast schließlich die Arriflex nicht erfunden«, schnauzte er ihn an, »sondern Adolf Hitler.« Der Kameramann, der es zwar besser wusste, ließ seinen Regisseur gewähren. Dessen Argumentation hatte einiges für sich. Die Spiegelreflexkamera sei entwickelt worden, um den Vormarsch der Truppen besser filmen zu können. Dass das Kino über eine leichte, wendige Kamera verfügt, ist laut Godard also dem Zweiten Weltkrieg geschuldet.

Tatsächlich hieß der Erfinder der Arriflex Erich Kästner. Nein, nicht der Schriftsteller, sondern ein Konstrukteur gleichen Namens, der 1937 (als Hitler zugegebenermaßen schon Kriegspläne schmiedete) die Kamera mit dem Revolverkopf für drei Objektive entwickelte. Auf der Leipziger Messe wurde sie vorgestellt und sollte sich weltweit bald gegen die ebenfalls praktikablen Modelle der Konkurrenten Debrie sowie Bell&Howell behaupten; nicht nur auf den Schlachtfeldern.

Wenn an diesem Freitag die deutschen Filmpreise vergeben werden, hat die Filmakademie zumindest in zwei Kategorien schon einmal Augenmaß bewiesen. Der Preis fürs Lebenswerk geht an Monika Schindler, meine beeindruckende Sitznachbarin während der Berlinale (»Ein Ehrenplatz« vom 16.2. ). Meine damalige Hoffnung, die Schnittmeisterin würde weitere, wohlverdiente Preise erhalten, hat sich bewahrheitet. Dazu sind in der »Berliner Zeitung« und dem »Tagesspiegel« einnehmende Porträts erschienen; Gunda Bartels wagt im zweiten Text sogar Ansätze einer Stilanalyse. Ein Ehrenpreis geht an die Münchner Firma Arri, die im September ihr hundertjähriges Jubiläum feiert. Dies scheint eine späte Entscheidung gewesen zu sein; die Pressemitteilung kam jedenfalls erst in der letzten Woche. Die Filmakademie feiert sie eine internationale Erfolgsgeschichte, die sich gleichsam im Wechsel von Angriffskrieg und der Befreiung des filmischen Blicks vollzieht.

An ihrem Anfang steht leidenschaftlicher, also vergleichsweise undeutscher Pioniergeist. August Arnold und Robert Richter sind blutjung, als sie die Firma gründen, die zunächst ihrer beider Nachnamen trägt. Obwohl erst 18 respektive 19 Jahre alt, verfügen sie schon über einige Kinoerfahrung. Die ersten zwei Jahrzehnte der Firmengeschichte überspringen wir an dieser Stelle geflissentlich, denn für mich wird sie mit der Entwicklung der Arriflex 35 erst richtig interessant. Die leichte Spiegelreflexkamera findet bald auch friedliche Verwendung.

In den 1950er Jahren hat sie Teil am internationalen Durchbruch des indischen Kinos: Satyajit Ray setzt sie im zweiten Teil seiner »Apu«-Trilogie ein. Ende der 1960er, nach einem Jahrzehnt schwerfälliger Studioproduktionen, schickt sich das New Hollywood an, die Straßen zu erobern. Die Arriflex 35 prägt das Antlitz dieser Kinobewegung maßgeblich. Die Initialzündung gibt Lázlo Kovács bei »Easy Rider«. Auch sein Landsmann Vilmos Zsigmond, mit dem er gemeinsam aus Ungarn geflohen ist, schätzt die Bewegungsfreiheit, die ihm der Apparat gibt. Bei seinen ersten Filmen, zumal für Robert Altman, kommt sie ihm sehr zupass. Weitere Schrittmacherdienste leistet John Alonzo, der die Kamera für »Fluchtpunkt San Francisco« auf den Kühlerhauben der sich verfolgenden Straßenkreuzer befestigt. Sie hält jede Erschütterung aus. Schließlich war sie, wie Alonzo weiß, einst die Bordkamera der Messerschmitts. Michael Chapman verwendet eine Weiterentwicklung, die Arriflex BL, zuerst in »Taxi Driver« und vor allem in »Wie ein wilder Stier«, wo es ihm der handliche Apparat erlaubt, sich unter die kämpfenden Boxer im Ring zu mischen. (Für den Dreh zu »Das letzte Kommando« musste er 1973 indes auf eine Panavision-Kamera zurückgreifen, denn das Vorläufer-Modell fror bei Minustemperaturen ständig ein.) Mit der BL lassen sich auch die extremen, Aufsehen erregenden Zeitlupen realisieren, die Scorsese für »Wie ein wilder Stier« vorschweben.

Wie viel technische Kunstfertigkeit und Phantasie in die Entwicklung von Kameras einfließt, wird Laien wie mir ein ewiges Rätsel bleiben. Arri entwickelt die eigenen Produkte ständig weiter. Früh erkennt man in München die Möglichkeiten digitaler Techniken. Die »Alexa«, im Frühjahr 2010 vorgestellt, wird im neuen Zeitalter zum richtungsweisenden Aushängeschild der Firma. Beispielsweise setzt sie Robert Richardson bei »Hugo Cabret« ein und Roger Deakins bei »Skyfall« und »Sicario«. Sie eignet sich auch für intimere, atmosphärischere Stoffe, wie Darius Khondji bei Hanekes »Liebe« demonstriert. 2015 gibt es sie auch in einer Miniaturversion. Im gleichen Jahr bringt Arri die Alexa 65 heraus, deren Bildauflösung angeblich dreimal so hoch ist wie bei analogen Super-35-mm-Kameras. Nach Deakins' Ansicht besitzt sie ein viel breiteres Farbspektrum als jede andere Kamera. Besonders eignet sie sich offenbar für Dreharbeiten unter extrem erschwerten Bedingungen. Mit ihr wird unter anderem die Unterwasser-Sequenz in »Mission Impossible: Rogue Nation« gedreht. Emmanuel Lubezki verwendet sie bei »The Revenant«, den er ohne künstliches Licht drehen kann. Wetterfest ist sie also auch. An Brillanz fehlt es diesem Preis nicht, aber wahrscheinlich an Glamour. Ob er glanzvoll genug ist, um in der Fernsehzusammenfassung am Freitagabend vorzukommen, ist noch die Frage.

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