Die Champagnerjahre sind noch nicht vorüber

Danielle Darrieux © Frédéric Durgit / PhotoPQR / Le Parisien / MaxPPP

Für einmal bin ich froh darüber, ein notorisch säumiger Autor zu sein. Den Nachruf auf Danielle Darrieux, obgleich schon vor geraumer Zeit von einer Tageszeitung bestellt, habe ich immer noch nicht geschrieben. Heute wird sie 100 Jahre alt, und es ist wundervoll, dass ich ihr dazu gratulieren darf.

Sie ist ein wenig das, was offenbar Michelangelo Antonioni für Michael Althen war: Der Nachruf wird immer wieder hinausgezögert, in meinem Fall aus Aberglauben und Ehrfurcht, obwohl man ihn ständig im Hinterkopf hat. Wenn ich auf Reisen gehe, sind die Notizen immer in meinem Gepäck. Freunde und Redakteure mögen darüber spotten. Aber sie hat mir Recht gegeben, auszuhalten. Zwar hat sie 2010 ihren letzten Kinofilm gedreht, aber insgeheim durfte man immer noch mit ihr rechnen. Und sei es (das »nur« scheint mir falsch in diesem Zusammenhang) für eine Sprechrolle in einem so erstaunlichen Animationsfilm wie »Persepolis«. Acht Jahrzehnte Kinogeschichte hat die am 1. Mai 1917 in Bordeaux geborene Schauspielerin geschrieben und mindestens fünf Generationen von Regisseuren inspiriert: eine Jahrhundertschauspielerin.

Die Verlobte von Paris

Sie ist der erste originäre Filmstar Frankreichs. Ihre Vorgänger kamen entweder vom Theater oder dem Varieté. Aber sie gehört von Anfang an ganz dem Kino. Mit 14 nimmt sie an einem Vorsprechen teil und bekommt 1931 die Rolle der aufsässigen Tochter in »Le Bal«, übrigens nach einer Kurzgeschichte von Irène Némirowsky. Das ist schon gleich eine Hauptrolle; sie überspringt die Karrierephase der kleinen Nebenrollen von Anfang an. Schon im ersten Film singt sie, das wird über Jahrzehnte ein Markenzeichen, und verleiht damit dem aufkommenden Tonfilm sozusagen doppelte Legitimität. Die Musikalität wird eine wichtige Komponente ihres Spiels bleiben: Rhythmus, Tempo und Kontrapunkt machen sie zu einem einzigartig raffinierten Instrument. Sie bewegt sich schnell und spricht schnell. Sie dreht auch schnell: 30 Filme in ihrem ersten Jahrzehnt, davon 21 in nur fünf Jahren. Die hat es sie, wie sie später sagt, aber auch gekostet, um zu begreifen, was ein Schauspieler ist. Da sie keine Theatererfahrung hat (sondern erst viel später sammeln wird), muss sie nicht proben. Sie ist meist schon beim ersten Take gut.

Für Marcel Duchamp sind das Synonyme: Darrieux und Schnelligkeit. In ihren frühen Filmen ist sie praktisch immer mit dem Automobil assoziiert. Noch eine Ingénue und bereits eine moderne Frau. Niemand durchquert den filmischen Raum wie sie. Ihr Spiel ist eminent physisch, die Agilität ihrer Gesten und Mimik schon früh unverwechselbar. Sie ist die kapriziöse Debütantin auf dem Parkett des Lebens, frisch, spontan, ehrgeizig und optimistisch. Dessen Anforderungen stellt sie sich mit großen, erstaunten Augen, mit Leichtsinn und Raffinement. Ihre großen Träume führen sie, ebenso unschuldig wie abenteuerlustig, in manche Bredouille. Sie ist zur Vernunft zu bringen. Aber ihren Platz in der Welt wird sie sich im Zweifelsfall ermogeln. Das Publikum gibt ihr den Kosenamen »Die Verlobte von Paris«, was ja noch eine gewisse Schicklichkeit impliziert. Übrigens wird sie oft, im Wort- wie im übertragenen Sinne, in den Filmen adoptiert. Selbst in Wüstlingen weckt sie väterliche Instinkte.

Mitte der 1930er hört sie zwar nicht auf, eine Komödiantin der Liebe zu sein. Aber ihr erster Ehemann, der ehemalige Weltkriegspilot und Olympiaschwimmer Henri Decoin, setzt sie auch in dramatischen Rollen durch. In »Vertrauensbruch« von 1937 spielt sie eine junge Anwältin, die ihrem ersten Plädoyer entgegenfiebert (allerdings auch eine Katholikin mit unreinem Gewissen). In dem Monarchie-Melodram »Mayerling« erregt sie international Aufmerksamkeit – andere wären in der Rolle statuarisch gewesen, sie ist es nicht – und erhält einen Sieben-Jahres-Vertrag von Universal. RKO und Paramount interessieren sich auch für sie. Kein Wunder, viele ihrer französischen Filme sind praktisch Screwball comedies. Mit dem Passagierdampfer »Normandie« reisen sie und Decoin in die USA (Cole Porter ist auch an Bord; schade, dass sie nie zusammenarbeiten). Auf einer Party bei Gary Cooper lernt sie Julien Duvivier, mit dem sie zwei Jahrzehnte später zwei ihrer besten Filme dreht. Nach nur einem Film bricht sie den Hollywoodvertrag; auch aus Heimweh. Das kommt sie finanziell teuer zu stehen. Aber in Frankreich empfängt man sie mit offenen Armen.

Die grauen Jahre

Darrieux, das ist Champagner, sagt man damals gern über sie. Auf diese Epoche folgt eine, deren Föhlichkeit zwiespältige ist. Während der Besatzung wird sie zum größten Star der Produktionsfirma »Continental«, die urfranzösische Filme mit deutschem Geld herstellt. Im Berliner Zeughauskino läuft in wenigen Tagen eine Retrospektive mit Filmen dieses einzigartigen Unternehmens an. Neben Albert Préjean, ihrem ehemals häufigsten Leinwandpartner, und anderen tritt sie die fatale Reise nach Berlin an, wo die filmischen Abgesandten des Vichy-Frankreich von Goebbels begrüßt werden. Sie hat auch einen privaten Grund, den Zug zu besteigen: Ihr zweiter Ehemann, der kolombianische Diplomat und Playboy Porfirio Rubirosa, ist in Deutschland der Spionage verdächtigt und interniert. Angeblich erpresst sie Alfred Greven, der schillernde Produktionschef der »Continental«, mit Repressalien gegen ihren Gatten – ein Opfer, das Max Ophüls verstanden hätte. Nach der Befreiung muss sie sich wegen mutmaßlicher Kollaboration rechtfertigen. Ihre Karriere vollzieht erstmals eine Absturzbewegung. Bis zu ihrem glanzvollen Comeback mit »Occupe-toi d'Amélie« 1949 tritt sie kaum vor der Kamera in Erscheinung.

Die sublime Verbindung

Dann trifft sie Max Ophüls, der ihr sagt, sie habe so viel komisches Talent, dass sie unbedingt tragische Rollen spielen muss. Eine andere, nicht ganz so schmeichelhafte Variante des Kompliments lautet: »Du kannst alles spielen, weil du immer ein wenig lächerlich bist.« Er erfindet, wie französische Filmhistoriker sagen, ein neues Gesicht für sie: Das Oval ihres Antlitz' entspricht dem Oval des Spiegels in »Madame de...«. Im Gegenzug verleitet sie ihn, Großaufnahmen einzusetzen. In »Le Plaisir« spart er die bis zur Mitte des Films für sie auf, in »Der Reigen« »reißt« der Film bei ihrem ersten Close-up, »Madame de...« wird eine rechte Kaskade der Nahaufnahmen von ihr.

Vielleicht fehlte sie vorher in seinem Kino. »Brief einer Unbekannten« wäre dementsprechend ein Film der Erwartung und »Lola Montez« ein Film der Abwesenheit. Sie wollen gemeinsam eine Produktionsfirma gründen, daraus wird nichts. Aber ihre drei Filme stellen einen Gipfel in beider Karrieren dar. Niemals davor und danach gelingen ihr Stimmungswechsel so überzeugend rasant. Die gespielte Aufregung vor dem ersten Stelldichein in »Der Reigen« ist sublim, wunderbar ist auch ihr geflissentliches Mitgefühl, als der junge Daniel Gelin beim Liebesspiel versagt und sie versonnen, nein: gelangweilt auf ihre Fingernägel schaut. Lässig wirkt die Zigarette in ihrem Mundwinkel als Bordellchefin in »Plaisir«, aber die Verruchtheit ist nur die Maskerade einer moralischen Unruhe: Sie ist die Erste, die bei der Trauerfeier bitterlich weint. »Madame de...« wiederum hätte auch eine Komödie werden können, das Zirkulieren der Ohrringe erinnert fast an René Clair, wird dann aber das schönste Melodram der Filmgeschichte. Die Liebe beginnt als beschwingter Tanz, aber nie wieder soll das französische Kino so unwiderruflich tief unter die mondäne Oberfläche schauen. Die Frivolität der Figur zeigt sich allein schon in der Hast, mit der sie in der Kirche betet; es ist nur das Vorspiel einer ergriffenen Glücks- und Schmerzerfahrung.

Die Kunst der Mesalliance

In dieser Zeit kehrt sie auch kurz nach Hollywood zurück. In »Die Affäre Cicero«, dem elegantesten aller Spionagefilme, ist sie die Partnerin von James Mason. Natürlich verrät sie ihn, eine Frau wie sie verliert nicht so leicht den Kopf und kennt die Grenzen ihres Mutes. Ich glaube, er sagt einmal zu ihr: »I cannot remember when I have seen a lady as beautiful as you eat as heartily«. Darrieux' Verletzbarkeit ist immer robust. Ihre aufrechte Körperhaltung, die sie den Blick stolz senken lässt, ist das Unterpfand dieser Souveränität: skeptisch, spöttisch, auch herablassend, aber immer nahbar.

Zehn Jahre nach ihrer Scheidung von Decoin beginnt sie einen neuen Zyklus mit ihm. Den Höhepunkt erreicht er gleich zu Beginn mit »Die Wahrheit über unsere Ehe« nach einer Vorlage von Simenon, wo sie unbarmherzig den Abgrund an Fremdheit und Verbitterung ausloten, der zwischen Eheleuten klaffen kann. Das ist eine schöne Vorbereitung für das späte Rendezvous mit Duvivier, bei dem sie als lebenskluge Modistin in »Immer wenn das Licht ausgeht« und vor allem als »Marie-Octobre« glänzt. Da ist sie das Zentrum einer Résistance-Zelle, die sich 15 Jahre später wieder trifft, um den Verrat ihres Anführers an die Besatzer aufzuklären. Ihre große Liebe könnte eine Lebenslüge gewesen sein. Wunderbar ihr höfliches Lächeln, als ihr alter Verehrer Serge Reggiani einen Tanz mit ihr einfordert. Später wird sie den Schuldigen töten und sich selbst kaltblütig der Polizei ausliefern.

Da ist sie die einzige Frau unter lauter Männern. Sie selbst sagt, das sei die Umkehrung von Ozons »8 Frauen«. Aber wir wollen nicht vorgreifen. Mit der Nouvelle Vague hat sie wenig Berührungspunkte, abgesehen von Chabrols Film über den Frauenmörder Landru. Mit Jacques Demy schöpft sie bei »Die Mädchen von Rochefort« indes frischen Elan.

Kein Selbstzitat

Demy ist der erste, der sie tatsächlich in ein modernes Kino führt. Viele folgen seinem Beispiel, Paul Vecchiali, Benoit Jacquot und nicht zuletzt André Téchiné. Sie drehen Filme mit einer Kinolegende, die den Anschluss zum Gegenwartskino findet. Dabei geht es auch darum, dass das Älterwerden nicht unwiderruflich Verbitterung bedeutet. 1988 hat sie bei Claude Sautet in »Einige Tage mit mir« einen beiläufig fulminanten Auftritt als Daniel Auteuils lebenslustige Mutter.

Als sie 2002 in »8 Fauen« als Großmutter präsidiert über das mokante Spiel, wird sie als die »Frau der hundert Filme« wiederentdeckt. Das ist aus zwei Gründen Unfug. Erstens sind es weitaus mehr und zweitens war sie nie fort. Statt eines Comebacks sollte zu diesem Zeitpunkt eher die Kontinuität gefeiert werden. Nicht nur im Kino, sondern nach dem Weltkrieg auch auf der Bühne, in Stücken von Sacha Guitry, Noel Coward, Alfred de Musset und Henri Bernstein, den wir seit Resnais' »Melo« wieder schätzen dürfen. Am Broadway übernimmt sie als Coco Chanel die Stafette von Katherine Hepburn, die seit den 30ern ihr großes Vorbild ist. (Ich persönlich finde, sie steht der agilen Anmut Claudette Colberts näher.) In »8 Frauen« verkörpert sie zum vierten Mal die Mutter Catherine Deneuves, die von ihr sagt: »Wenn es einen Menschen gibt, der mir die Angst vorm Älterwerden nimmt, dann ist sie es« Recht hat sie. Danielle Darrieux ist vor der Kamera immer im besten Frauenalter; gleichviel ob bei ihrem Debüt mit 14 oder acht Jahrzehnte später.

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