Das "h" bleibt stumm

Orizuru Osen/The Downfall of Osen (Kenji Mizoguchi, 1935)

Der Ton ist der große Vergessene der Stummfilmzeit. Experimente, ihn mit bewegten Bildern zu verknüpfen, gibt es seit Beginn der Filmgeschichte. Thomas Alva Edison, der unter Schwerhörigkeit litt, war viel stärker an der Weiterentwicklung seines Phonographen interessiert als an der seines Filmvorführapparates, des "Kinetoscope". Bereits 1900 gab es erste Versuche mit Playback-Verfahren. Es war nicht allein die Lust am Paradoxon, die den französischen Regisseur Robert Bresson feststellen ließ, erst der Tonfilm habe die Stille erfunden.

Der Legende zufolge entstand Filmmusik, weil die Zuschauer der Frühzeit sich in der Dunkelheit fürchteten. Also wurden Musiker verpflichtet, um den Traumbildern auf der Leinwand eine beschwichtigende, räumliche Realität zu verleihen. Aber Stummfilme wurden nicht nur von Pianisten (und bald auch Orchestern) begleitet, sondern überdies oft von Erzählern kommentiert. In Frankreich nannte man sie bonimenteurs, Märchenerzähler. Diese Gepflogenheit hielt sich in Europa bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg. In einigen Ländern, darunter der Sowjetunion, trat der Erzählkommentar nach dem Beginn der Tonfilmära lange Zeit an die Stelle der Synchronisation.

Im Japanischen Kulturinstitut in Köln ist von heute Abend an die Renaissance einer weiteren, nicht ganz verschollenen Tradition zu erleben. In Japan entwickelte sich bereits ab 1896 eine eigene Kunstform des gesprochenen Kommentars, die sich aus den Traditionen des Kabuki- und Bunraku-Theaters ableitete. Die benshi – das "h" bleibt stumm – sprachen die Zwischentitel, anfangs mehrere in verteilten Rollen, später dann nur noch einer, und schilderten emphatisch die Geschehnisse auf der Leinwand, neben der sie standen. Dialoglose Passagen füllten sie mit Gedichten; nicht selten gerieten sie dabei so sehr in Verzückung, dass sie die Filmhandlung aus den Augen verloren. In der Hochzeit gab es mehrere Tausend von ihnen. Zu den größten Stars zählten Musei Tokugawa und Rakuten Nishimura, deren Stimmen tragend genug waren, um in großen Kinosälen bestehen zu können. Die benshi waren ein integraler Bestandteil des Filmerlebnisses. Das Publikum schenkte ihnen oft größere Aufmerksamkeit als den Filmen selbst. Einige von ihnen waren berühmter als die eigentlichen Stars; sie verdienten in der Regel auch besser. Ihre Popularität war mit dafür verantwortlich, dass sich der Tonfilm in Japan erst Mitte der 1930er Jahre durchsetzte. Als ein Streik des Berufsstandes 1932 jedoch scheiterte, beging der Anführer, Akira Kurosawas Bruder Heigo, Hara Kiri. Aber auch danach wurde die Tradition weiter gepflegt; vor allem in ländlichen Provinzen.

In den 1970er Jahren begann eine neue Generation, den Beruf für sich zu entdecken. Midori Sawato, die auch heute noch auf Europatournee geht, ist eine Pionierin dieser Bewegung. Sie kommt ganz schön herum: Ich erinnere mich, dass sie vor ein paar Jahren in Rom, Nantes, Paris und Berlin gastierte und »Orizuru o sen« (der zwei deutsche Titel hat, »Der Untergang von Osen« und »Osen und die Papierkraniche«) von Kenji Mizoguchi mit disziplinierter Ergriffenheit begleitete. Sawato schöpft alle poetischen Freiheiten dieser Disziplin aus, verkörpert die Figuren mit je eigener Empathie, liest ihnen die Worte von den Lippen ab, erfindet Dialoge hinzu, versenkt ihre Stimme tief in die Atmosphäre des Films.

In Köln treten außer ihr noch Shunsui Matsuda und Suisei Matsui als Filmbegleiter auf, die ich noch nicht live erlebt habe. Letzteren kenne ich jedoch aus dem Bonusmaterial der französischen DVD-Ausgabe von »Orizuru o sen«, des letzten Stummfilms von Mizoguchi. Sein Kommentar ist da ungewöhnlich knapp, hält sich eng an die Handlung. In hastigem Duktus erzählt er die Zwischentitel nach, erfindet nur sporadisch Dialoge hinzu und verstummt in den Passagen, in denen der Zuschauer die ungeheure Beweglichkeit der Kameraführung auf sich wirken lassen kann. Der Kölner Filmzyklus trägt einen sehr schönen Titel, »Stumm und doch niemals lautlos«, und läuft noch bis Ende Mai. Aus dem Programm kenne ich nur zwei Mizoguchis. Allerdings bieten die Filmreihen des Kulturinstituts stets großartige Gelegenheiten, historische Wissenslücken zu schließen. Früher gab es zu diesem Zweck auch erfreuliche Broschüren heraus (Vielleicht tut es das noch heute? Ich habe leider lange Zeit keine mehr in Händen gehabt). Gleichviel, es ist fabelhaft, dass diese Reihe die benshi-Tradition aufrechterhält, denn sie stellt ein exquisites Erlebnis dar. Im Gegensatz zu den meisten ihren Kollegen kommentiert Midori Sawato übrigens die Handlung nicht neben der Leinwand stehend, sondern diskret von einem Tisch aus. Dabei entsteht ein faszinierender Verfremdungseffekt: Es fällt bisweilen schwer, den Blick von ihr zu lösen und wieder der Leinwand zuzuwenden.

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