4PA2014

Die Pariser Friedhöfe halten den Besucher zur Taktlosigkeit an. Die Suche nach einem bestimmten Grab lässt sich kaum bewerkstelligen, ohne dass man über andere Grabstätten steigen muss oder ihnen zumindest pietätlos nahe tritt. Sie liegen einfach zu eng beieinander. Das wird sich in Zukunft nicht bessern, da an eine Vergrößerung ihrer Fläche im Stadtraum natürlich nicht zu denken ist und manche Neuzugänge einfach nicht abgewiesen werden können.

Der Liebste unter den Pariser Friedhöfen ist mir der in Montparnasse. Dort wurden meine französischen Lieblingsregisseure bestattet: Jacques Becker, Jacques Demy und Claude Sautet. Gern besuche ich auch die letzten Ruhestätten von Delphine Seyrig und Philippe Noiret. Und ich hoffe, dass es noch lange Zeit dauern wird, bevor Agnès Varda in dem Grab beerdigt wird, das neben dem ihres Mann Jacques Demy auf sie wartet. An diesem Tag wollte ich jedoch zu einer anderen Grabstätte pilgern: Alain Resnais wurde am 10. März in Montparnasse beigesetzt. Auf dem Plan, der den Weg zu den berühmtesten Toten, war sein Name noch nicht verzeichnet. Und der erste Beamte, den ich nach seinem Platz fragte, war keine große Hilfe. Den Regisseur kannte er nicht, aber immerhin konnte ich ihm das Datum der Beerdigung nennen. Er fand nicht viel mehr heraus als dass er in Division 4 läge und die Stätte die Nummer 4PA2014 trüge.

Die Frage, wie Resnais' Grabstein wohl aussehen würde, intrigierte mich: Gewiss würde er diskret und elegant sein, aber ich stellte mir vor, dass es womöglich eine verspielte Verzierung geben könnte. Welche Aufschrift würde er tragen? Gleichviel, ich konnte die Stelle partout nicht finden. Stattdessen kam ich fünfmal am Grab des Schauspielers Jean Carmet vorbei, auf dem etliche verwelkte Blumensträuße lagen. Es muss wohl eine Stunde gedauert haben, bevor ich meine Suche in der Mittagshitze aufgab „O, du hast aber Farbe bekommen!“ sollte später mein Gastgeber bei meiner Rückkehr sagen.

Ich machte mich wieder auf den Weg zum Ausgang, in der Hoffnung, dort einen ortskundigeren und gebildeteren Friedhofswärter zu finden. Tatsächlich hatte ich Glück. Der nun Dienst tuende Beamte war mit Namen und offenbar auch Werk des Gesuchten vertraut, gab mir eine relativ präzise Beschreibung, warnte mich aber, dass ich noch keinen Grabstein, sondern nur zwei Betonplatten vorfinden würde: Die Beerdigung läge ja erst drei Monate zurück. Seinen Anweisungen folgend, wurde ich in der Division 4 doch noch fündig. Die Stätte liegt gleich neben der Grabplatte von Resnais alter Freundin Nicole Vedrès, für die er in den 40er Jahren den schönen Dokumentarfilm „ Paris 1900“ montierte. Ganz sicher war ich mir nicht, weshalb ich am nächsten Morgen Kontakt zu meinem Freund Francois Thomas aufnahm, der zweifelsohne der weltweit größte Kenner Alain Resnais' ist.

Francois konnte mir die Richtigkeit meiner Vermutung bestätigen und erzählte von der Trauerfeier und Beerdigung. Seine Schilderung von deren Ablauf und Atmosphäre war ebenso bewegend wie detailliert. Resnais' Witwe Sabine Azéma hatte sich für ihn einen weißen Sarg und weiße Rosen gewünscht. Sein letzter Produzent, Jean-Louis Livi hatte die Organisation der Trauerfeier in der Kirche Staint-Vincent-de-Paul übernommen, die ein würdevolles Schauspiel gewesen sein muss. Resnais' junger Kollege Bruno Podalydès inszenierte die Hommage.

Auf der einen Seite der Kirche saßen die offiziellen Gäste, Vertreter der Politik und Berühmtheiten aus Kultur und Filmgeschäft. (Ob Costa-Gavras, den man nie anders als in roten Socken sieht, zu diesem Anlass wohl eine andere Farbe gewählt hatte?) Auf der anderen Seite versammelte sich Resnais' „Familie“ um Sabine Azéma, treue Weggefährten wie sein Szenenbildner Jacques Saulnier und natürlich seine geliebten Darsteller; der Komponist Mark Snow war aus New York angereist. Es war keine traurige Feier, versicherte Francois mir, sie alle fanden Trost darin, sich in diesen Stunden nahe sein zu können. Auf Großbildschirmen liefen Ausschnitte aus zwei Filmen, die noch einmal demonstrierten, wie beglückend dieser Regisseur die Widersprüche harmonisieren konnte: aus der Laurel&Hardy-Komödie „Way out West“ und aus Leo McCareys erster Version des Melodrams „Love Affair“. Der Sarg wurde von Pierre Arditi, André Dussollier, Bruno Podalydès und seinem Bruder Denis sowie Mathieu Amalric und Michel Vuillermoz getragen. André Dussollier hielt am Grab eine ergreifend schöne Rede (deren Wortlaut, allerdings nur auf Französisch, auf der Webseite der Cinémathèque francaise zu finden ist: http://www.cinematheque.fr/fr/hommages/cher-alain-par-andre-dus.html).

Wer weiß, ob nicht vielen der Anwesenden ähnliche Gedanken wie mir durch den Kopf gingen, als ich das Grab suchte? Vielleicht werden auch sie sich daran erinnert haben, dass seine letzten Filme „Ihr werdet euch noch wundern“ und „Aimer, boire et chanter“ auf Friedhöfen enden. Und manch einer wird womöglich mit einem Lächeln an „Smoking/No Smoking“ gedacht haben. Seit ich die Nachrufe in französischen Zeitungen las, geht mir ein Satz von Gilles Deleuze nicht mehr aus dem Kopf: Jeder Film von Resnais handle im Kern davon, wie ein Mensch von den Toten zurückkehrt. So große Erwartungen hege ich nicht. Aber bei meinem nächsten Paris-Aufenthalt werde ich es auf keinen Fall versäumen nachzuschauen, welchen Grabstein Sabine Azéma nun in der Division 4 für ihren Mann hat errichten lassen.

 

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