Der folgende Artikel stammt aus dem epd-Archiv, wir bitten die reduzierte Darstellungsweise zu entschuldigen
  Der Mensch neigt dazu, religiöse Rituale aufzuführen

Dietrich und Anna Brüggemann über langen Einstellungen, Fundamentalismus und ihren neuen Film „Kreuzweg“

© Berlinale

Ihr habt mit „Kreuzweg“ gewissermaßen einen Schnitt gemacht in Eurer Filmographie: Von Generationenkomödien zu einer Moralgeschichte.

Dietrich Brüggemann: Zweifellos richtig. Wobei ich gerne die Kontinutität zwischen den Filmen betonen will, so komisch das klingt. Was ich immer versuche, ist, ein soziales Gefüge, also eine Gruppe von Leuten, die sich zueinander verhalten und miteinander agieren, möglichst präzise zu schildern, jeder einzelnen Figur ein bisschen ins Gehirn zu blicken und dahin zu schauen, wo es peinlich ist, und das dann in eine filmisch zwingende Form zu bringen, die zum Milieu und zum Sujet passt. Und das war eben bei diesem Film genauso, die Arbeit hat sich gar nicht so unterschiedlich angefühlt. Aber natürlich ist das ein ganz anderer Film.

 

Anna Brüggemann: Dass wir versuchen, einen Ton zu treffen, den wir als authentisch empfinden, das hat sich nicht geändert. Wir haben immer ein großes Interesse an den Personen, von denen wir erzählen, und haben immer Lust, die in ihren Widersprüchen zu zeigen.

 

Thematisch geht „Kreuzweg“ neue Wege, aber formal springt Ihr zurück zu eurem ersten Film „Neun Szenen“, in dem jede der neun Szenen mit einer einzigen Kameraeinstellung gedreht wurde…

 

DB: Ich bin damals bei „Neun Szenen“ eher aus einem spielerischen Ansatz darauf gestoßen, auch aus der Not heraus mit den Mitteln, die wir hatten, einen Film zu machen. Und ohne Sender hatten wir so gut wie keine, also was soll man machen. Damals war Wackel-Mini-DV-Kamera en vogue, Robert Thalheim hat damals „Netto“ gemacht, und sowas hätte ich auch machen können, aber dazu fiel mir nichts ein. Ich kann aber auch die Kamera zehn Minuten hinstellen, und das neun Mal machen, 9 x 10 sind 90 Minuten.

Hinzu kommt dann auch, dass es für die Darsteller etwas ganz Besonderes war. Man kann den Druck erhöhen in so einer langen Szene, für die Schauspieler ist das toll. Kurz zusammengefasst: „Neun Szenen“ funktionierte schonmal fantastisch, aber es war klar: die Möglichkeiten dieses interessanten Seitenarms der Filmkunst, den wir da aufgemacht haben, sind auch noch lange nicht ausgeschöpft.

Ich bin übrigens auch ein Riesenfan von Roy Andersson, von seiner Art der Inszenierung. Wobei ich behaupte, was wir machen, unterscheidet sich sogar noch, weil wir tatsächlich Geschichten erzählen mit einem festen Figurenensemble. Wo er groteske Miniaturen macht und in menschliche Abgründe hineinschaut, geht es ja hier tatsächlich um so etwas wie eine Geschichte, und jede Szene hat auch ihren Platz in der Erzählung.

 

„Kreuzweg“ wurde in Kritiken auch mit Ulrich Seidl in Zusammenhang gebracht.

 

DB: Ja, das ist sicher nicht verkehrt. Wobei: Wenn ich mich zwischen Seidl und Roy Andersson entscheiden müsste, würde ich Andersson nehmen. Ich entdecke da mehr Weisheit, an die ich andocken kann.

 

In der letzten Szene von „Neun Szenen“ fliegt die Kamera über die Landschaft, das ist ein toller, erhebender Moment für den Zuschauer…

 

DB: Das ist eine Riesen-Steadycam-Rennerei, die mal tatsächlich Sinn macht…

 

Und einen formal ähnlichen Effekt habt ihr ja in der letzten Szene von „Kreuzweg“, aber mit einer ganz anderen Wirkung, weil für den Zuschauer erstmal keine Erlösung da ist.

 

DB: Das ist die Frage…

 

Das ist sowieso die Frage: Hat die Maria im Film nicht Recht, so wie bei Lars von Trier in „Breaking the Waves“, dass sie sich opfert und ein Wunder geschieht?

 

Wir waren 2002 bei einer Vorführung in den Hackeschen Höfen, in der Michael Haneke sein „Code Inconnu“ vorgestellt hat, und da sagte er: „Jo, ich kann auch nur versuchen, meine Fragen weiterzugeben.“ Seitdem versuch ich das auch.

 

Habt ihr persönliche Erfahrungen mit solchen erzkonservativen christlichen Kreisen?

 

DB: Wir haben da mal so reingeschaut. Wir sind vage katholisch aufgewachsen. Dann waren wir in Südafrika, mein Vater war beruflich dort, und da gibt es eine große deutsche Exilgemeinde, für Leute von Firmen, und die treffen sich in der deutschen Schule und in der deutschen Kirchengemeinde. Unser Vater, alt genug, um noch die alte Kirche, die lateinische Messe, miterlebt zu haben, hatte da ein gewisses Unbehagen, was ich auch durchaus verstehen kann. Denn es gibt zwei Sorten von Christen, die einen reden immer vom Kreuz, die anderen reden immer vom Brot. Dieses weichgespülte Jesuslatschen-Brot-Christentum, wo man so Hippie-Rituale durchführt, aus Pappmaché Steine baut, mit denen man dann irgendwas symbolisiert, oder Brücken baut zum andern und dazu Gitarre spielt: Das fand mein Vater nicht so gut, und ich kann das verstehen. Dann kam er eben drauf, dass es da eine Gemeinde gibt, die die Messe noch so feiert, wie es früher war, wie er es aus seiner Jugend kannte. Da sind wir dann ein paarmal hingegangen, und dann wieder weggeblieben, als wir festgestellt haben, dass es doch phänomenologisch eine Sekte ist. Aber das hat unser  Interesse am Thema nachhaltig geweckt.

 

Das Interessante ist, dass es Fundamentalismus in allen Religionen gibt, auch im Protestantismus.

 

AB: Religion ist ja immer so: Entweder man macht das entspannt und bleibt dem Leben zugewandt, oder man hat Angst vorm Leben und krampft sich rein. Das kann man bei jeder Ideologie so handhaben. Das fanden wir ja so interessant: Wenn sich jemand in eine Ideologie reinverbeißt und die wichtiger nimmt als das wahre Leben und auch wichtiger als das, was die Kinder eigentlich machen wollten, wenn man sie lassen würde… Ich glaube, das gibt es relativ häufig.

 

DB: Es muss auch gar nicht immer die Religion sein. Man kann seinen Kindern auch den Sozialismus aufs Hirn hauen, oder gesunde Ernährung oder Feminismus oder sonst irgendeine Ideologie. Katholischer Glaube, oder christlicher Glaube eignet sich ganz gut dafür, weil er auch einen ganz klaren Satz an Verhaltensregeln mitbringt.

Und dann geht es natürlich auch darum, was mach ich mit meiner Familie, mit meinen Kindern, was stell ich an, wenn die pubertieren und auch einen eigenen Willen entwickeln, sich mit Jungs treffen wollen oder mir sagen, was ich falsch mache. Ich glaube, jeder, der Kinder hat, kennt das. Ganz viele Leute, die Kinder haben, kommen aus dem Film und sagen: Oh, ich hab mich da so selbst gesehen! Das ist so furchtbar… Ich muss sofort meine Tochter anrufen und ihr sagen, dass ich sie liebe… Das finde ich sehr berührend, dass die Leute so reagieren.

 

AB: Es ist immer die Frage, wie schafft man es, dass das Leben weniger bedrohlich ist, dass das Leben meinen Kindern nichts tut. Vielleicht schafft man das, indem man sagt: Bitte mach ein gutes Abi und studier Jura, dann wird dein Leben gelingen! Oder eben: Bitte bete zu Gott und sage der Welt ade, dann wird dein Leben gelingen.

 

DB: Anderseits bin ich ja gar kein Kirchenfeind. Ich bin keiner von diesen Radikalatheisten. Leute haben ihre Heimat im Glauben, das muss man respektieren, Punkt. Kirche ist da und wird nicht weggehen, Punkt. Man muss sich ins Verhältnis setzen. Was soll ich mich denn in einen Antagonismus einordnen und sagen, das soll jetzt verschwinden. Das hat schon Voltaire nicht geschafft, das werd auch ich nicht schaffen und auch Richard Dawkins nicht. Love it or hate it: Aber es ist nun einmal so, dass der Mensch dazu neigt, religiöse Rituale aufzuführen. So ein Filmfestival wie die Berlinale ist auch ein religiöses Ritual: Es gibt einen Tempelbezirk, es gibt einen Hohepriester, es gibt Regisseure, die wie Heilige gefeiert werden, es gibt einen inneren Kreis von Eingeweihten, die mit einem Akkreditierungsbadge ausgezeichnet sind, und so weiter und so fort…

 

AB: Man kann ja auch Vernunft ausüben wie eine Religion. Man kann religiöse Leute von außen betrachten und sagen: Wahnsinn, was ihr macht. Aber man muss dann auch sich selbst von außen betrachten, ob man nicht in seiner Ablehnung genauso wahnsinnig ist.

 

Mit Dietrich Brüggemann und seiner Schwester Anna sprach Harald Mühlbeyer während der diesjährigen Berlinale. Dort lief „Kreuzweg“ im Wettbewerb und gewann einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch.