Der folgende Artikel stammt aus dem epd-Archiv, wir bitten die reduzierte Darstellungsweise zu entschuldigen
  Drin sein ist alles



Von Barbara Schweizerhof

Videocracy

© Videocracy

2009 verspricht am Lido der Jahrgang des Dokumentarfilms zu werden: Noch bevor am Sonntag Michael Moore mit seinem mit Spannung erwarteten Film zur aktuellen Krise, "Capitalism – A Love Story" dem bislang eher lustlos vor sich hindümpelnden Wettbewerb hoffentlich neues Leben einhaucht, sorgte im Nebenprogramm eine kleine Dokumentation über das Berlusconi-Fernsehen für Aufregung.

Damit bewahrheitete sich für den jungen italienischen Filmemacher Erik Gandini einmal mehr, dass jede Nachricht in der Medienwelt eine gute Nachricht ist. Als in der vergangene Woche bekannt wurde, dass der staatliche Sender Rai es abgelehnt hatte, einen Trailer seines Films "Videocracy" zu senden, verschaffte ihm dies eine ungeahnte Aufmerksamkeit. Die Verbotsanmutung, die in dieser Entscheidung lag – die Begründung, so Gandini selbst, lese sich "wie bei Orwell", je länger man sie lese, desto weniger sei sie zu verstehen – verlieh seiner bescheidenen Dokumentation unversehens den Status eines Festivalhöhepunkts. Dementsprechend groß war das Publikumsinteresse bei der Premiere am Donnerstagabend: der Saal wurde regelrecht gestürmt, es mussten mehr Zuschauer abgewiesen werden als Platz fanden.

Dabei zeigt Gandinis Dokumentation keinesfalls etwas Neues über Silvio Berlusconi und sein Fernsehimperium. Sein Film stellt den redlichen Versuch dar, einmal weniger den Mann und seine Machenschaften in den Vordergrund zu stellen, sondern vielmehr die Art von Fernsehen, das er geschaffen hat, auf seine Folgen für die Gesellschaft hin zu untersuchen. "Videocracy" beginnt mit der Urszene des italienischen Privatfernsehens: eine Runde von gut gelaunten Männern spielt mit anrufenden Zuschauern ein Quiz – bei jeder richtigen Antwort entledigt sich eine anwesende Dame eines Kleidungsstücks. Die Sendung hielt ganze Belegschaften bis spät in die Nacht wach. Und von diesem Erfolgsrezept haben sich Berlusconis TV-Kanäle bis heute kaum entfernt. Die so genannten "veline", TV-Showgirls, prägen mit viel nackter Haut das Geschehen auf dem Bildschirm. Zu ihnen zu gehören ist der Traum unzähliger Mädchen in Italien geworden.

Gandindi, der seit längeren Jahren in Schweden wohnt, kümmert sich in seinem Film nicht lange um die in der letzten Zeit viel diskutierten Frage, ob Berlusconi persönlich diesen Damen Privilegien wie Immobilien oder politische Karrieren verspricht, sondern er versucht darzustellen, dass dieses Fernsehen mit seinem Hang zum Exhibitionismus, seiner Eitelkeit und seiner Ruhmsucht die Gesellschaft tiefer verändert hat, als diese glaubt.

Zwar kann Gandindi dieses ehrgeizige Vorhaben nicht ganz umsetzen, seiner Dokumentation gelingt es nicht wirklich, all das sichtbar zu machen, was die Kommentarstimme an Analyse behauptet - trotzdem regt "Videocracy" auf neue Weise zum Nachdenken an. Der Film öffnet die Augen dafür, Berlusconis Fernsehherrschaft einmal nicht nur als Produkt von Kommerz und Korruption zu sehen, sondern als kulturelles System, das der Gesellschaft in erschreckendem Maße seinen Stempel aufdrückt. Im Grunde, so Gandini bei der anschließenden Publikumsdiskussion, sei die einst so entscheidende Frage in Italien, ob man links oder rechts stehe, abgelöst worden von der, ob man "drin sei oder nicht" – im Fernsehen.